Schnebel, Dieter
Maulwerke für Artikulationsorgane und Reproduktionsgeräte
Die Maulwerker Filmversion
Selbst bei der erschütterndsten Seelentiefe bewahrt die menschliche Stimme Haltung. Besonders in der Oper, in der trotz der emotionalen Achterbahnfahrten schönster Belcanto geboten wird. Was aber passiert, wenn die Lautäußerungsorgane nicht mehr an eine kunstvoll ausgelegte Partitur gekettet sind, sondern sie sich quasi ihren eigenen Weg bahnen müssen? Und dies anhand von zahllosen, feinsäuberlich notierten Artikulationsmöglichkeiten einer Note oder eines Geräuschs? Das Resultat wird archaische Züge tragen. Der Ausführende flüstert dann und stottert, stammelt und hechelt, gurrt und atmet, schlürft und pfeift. Von solchen Vokalversuchsanordnungen gibt es von Kurt Schwitters Ur-Sonate bis zu den Solo-Récitations von Georges Aperghis zahllose Beispiele. Doch wohl keiner hat den Vokalgesang so radikal entfesselt und dafür doch sogleich ein komplexes System an Vorgaben ausgebreitet wie Dieter Schnebel.
Im historischen Jahr 1968, in dem endgültig der Wille zur Emanzipation auf allen gesellschaftlichen Feldern ausbrach, legte Schnebel auch in der Musik den Grundstein für ein großes Vokalkonvolut abseits einengender Konventionen. Sechs Jahre lang untersuchte er da die stimmphysiologischen Voraussetzungen, mit denen jeder Einzelne spricht oder singt. Und heraus kamen die Maulwerke, in denen es um die Erforschung und Umsetzung der elementaren vokalen Ausdrucksskalen, aber auch um ihren kommunikativen Charakter geht.
Das nach Schnebels Werk benannte Ensemble «Die Maulwerker», das sich aus ehemaligen Schnebel-Studenten zusammensetzt, ist diese experimentelle Vokal-Reise schon oft angetreten. 2010, anlässlich des 80. Geburtstags des Komponisten, hatten die sechs Sänger und Sängerinnen nun eine vorläufig letzte Fassung erarbeitet. Und der lange Entstehungsprozess steht jetzt genauso im Mittelpunkt in der von Regisseurin Susanne Elgeti verantworteten DVD-Dokumentation wie ein einführendes Gespräch mit Schnebel und den «Maulwerkern». Den Maulwerken 2010, die jetzt als «Opus» bezeichnet werden, fehlt es zwar gänzlich an jeglichen Gefühlsregungen. Und wenngleich man sich daher in ein aseptisches Lautlabor versetzt glaubt, in dem es scheinbar keinen Platz für assoziative oder gar erzählerische Momente gibt, sorgen die Ausführenden mit ihren unendlich facettenreichen Zungen- und Lippen-Tätigkeiten doch für eine geradezu anspringende Intimität und aufwühlende Unmittelbarkeit.
Natürlich ist das angeschlagene, nur oberflächlich wildwuchsartig daherkommende Lautvokabular in der neuen Musik schon fast trendy geworden. Den Ereignischarakter dieser Aufnahme schmälert dies aber nicht. Eher könnte man sich an den Probenmitschnitten stoßen, die unter dem Titel «Exerzitien Produktionen Kommunikationen» nahezu vierzig Minuten einnehmen. Da brüten und tüfteln die Musiker dabei schon mal auf dem Boden sitzend in einer Haltung über den Materialbögen Schnebels, als wäre man in einem Selbsterfahrungskurs anno 1968.
Guido Fischer