Schaal-Gotthardt, Susanne / Luitgard Schader / Heinz-Jürgen Winkler (Hg.)

«… dass alles auch hätte anders kommen können»

Beiträge zur Musik des 20. Jahrhunderts

Verlag/Label: Schott, Mainz 2009
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2009/06 , Seite 88

Wenn die Signatur des 20. Jahrhunderts – wie die Herausgeber im Anschluss an Karl Löwith unterstellen – durch einen «Überschuss an Möglichkeiten, die eine zwingende Notwendigkeit ausschließen» gekennzeichnet ist, dann sind die vormals geradezu schlichten Alternativen von einem schier unübersehbaren Bedingungskomplex abgelöst worden, in dem sich schöpferisches Handeln zu bewähren hat. Dass dabei die von Hegel be­schwo­rene «Welt des Wollens» auch dem Zufall anheimgegeben ist, opponiert einer streng teleologisch orientierten Musikgeschichtsschreibung, wie es andererseits das Tor zu neuen und faszinierenden Hörlandschaften aufstößt. Es ist das Terrain der Unverfügbarkeit und der Unvorhersehbarkeit von Kunst. Dass die 17 Beiträge, die diese Welt des kategorischen Konjunktivs thematisieren, Giselher Schubert anlässlich seines 65. Geburtstags gewidmet sind, hat seinen guten Sinn. Wie nämlich das besondere Interesse des renommierten Hindemith-Exegeten dem Aufweis des Historischen im Zufälligen gilt, so sind auch alle Texte des vorliegenden Bandes von der Spannung zwischen diesen beiden Polen bestimmt.
Markiert Ernest Chaussons Liederzyklus Serres chaudes, mit dessen Analyse Herbert Schneider das Urteil Theo Hirsbrunners über Chaussons vermeintliche «Befangenheit in Konventionen» widerlegt, ein Opus von mittlerem Bekanntheitsgrad, so überrascht Ann-Katrin Heimer vollends mit einer wirkungsgeschichtlichen Studie über Humperdincks Bühnenmusik zu Maeterlincks Schauspiel Der blaue Vogel. Die übrigen Exempla gehören mehr oder weniger zum Kernbereich des Repertoires, wobei jeweils kompositionsästhetische und strukturelle Momente, die bisher gewisserma­ßen im toten Winkel des analytischen und hermeneutischen Zugriffs lagen, ausgeleuchtet werden. So etwa Pfitzners Materialbegriff (Andreas Eichhorn: «Pfitzners Palestrina»), die Frage «Was ist deutsch?» (Susanne Popp: «Regers Vaterländische Ouvertüre op. 140 und Requiem»), Strauss’ Rosenkavalier als Werk der Moderne (Laurenz Lütteken), Strauss’ Friedenstag als Einspruch des Schönen zuzeiten der Diktatur (Michael Heinemann), Hindemiths Cardillac (Zweitfassung) als «Metaoper […], ein Kunstwerk, dessen Thema die Kunst selbst ist» (Hermann Danuser), Bernsteins Musik (Candide) als «Credo für die Macht der Imagination» (Wolfgang Rathert), Klees/Klebes Zwitschermaschine als Fundus für mannigfache Assoziationen und Deutungen (Walter Salmen).
Mit seinem Beethoven-Buch als «gescheitertem Hauptwerk» (Hans-Joachim Hinrichsen) und der Korrespondenz über den kompositorischen Fortschritt mit Ernst Krenek (Ferdinand Zehentreiter) ist Theodor W. Adorno in zwei gewichtigen Studien vertreten. Wie ergiebig sich die mit dem Titel des Bandes vorgegebene These auch auf Lili Marleen und die Rezeption des Liedes bei Rainer Werner Fass­binder anwenden lässt, demonstriert der Beitrag von Albrecht Riethmüller.
Summa: Ein vielperspektivisch angelegter, mit Notenbeispielen und Abbildungen trefflich ausgestatteter Band. Er schärft den Blick des Lesers für etwas, was die Signatur der Musik des 20. Jahrhunderts wesenhaft mitbestimmt und was seit Robert Musil einen Namen hat: Möglichkeitssinn.

Peter Becker