Stoll, Rolf W. / Thomas Löffler

… dass hinfort keine zeit mehr sein soll

Max Beckmanns «Apokalypse»-Zyklus im Fokus Neuer Musik, mit CD

Verlag/Label: Schott, Mainz 2009
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2009/05 , Seite 92

Verfemt als «entarteter Künstler» hat Max Beckmann 1941/1942 im Ams­terdamer Exil einen Lithogra­fien-Zyklus Apokalypse geschaffen, der lange Zeit als verschollen galt. An­-läss­lich der Präsentation der wiederaufgefundenen Blätter hat das Ensemble Phorminx fünf Komponisten zu einer schöpferischen Auseinandersetzung mit Beckmanns Bildern und damit zugleich mit dem rätselhaftesten, am wenigsten gelesenen und gleichwohl am häufigsten zitierten Buch der Heiligen Schrift eingeladen. Die Apokalypse, solchermaßen in den Fokus der neuen Musik gestellt, steht auch im Fokus dieses Buchs. Dass der Luther’schen Übersetzung die 27 kolorierten Blätter eingelassen sind (begleitet von profunden Studien zu Beck­manns Illus­tration der Apokalypse und deren kompositorischer Anverwandlung ei­nerseits und von Werkkommentaren der Komponisten sowie einem Gespräch über die Genese des Auftragszyklus andererseits), macht die Pub­likation zu einem Kunst­buch von hohem Rang. Die vorzüglich reproduzierten Bilder haben ihr klingendes Pendant in einer CD mit der Einspielung aller Kompositionen durch das Ensemble Phorminx.
Dieser kon­zeptionell wohldurch­dachte Dreiklang von Wort, Bild und Musik ist nicht weniger als ein Angebot an den Leser/Hörer, sich in den interdisziplinären Diskurs einzufädeln, dem sich die fünf Kompositionen verdanken. Man kann diesen Diskurs als eine ständige Befragung jener apokalyptischen Matrix von Heils­vision und Endzeiterwartung beschreiben, die das letzte Buch der Bibel konstituiert. Zu entdecken, wie solche Befragung im musikalischen Material selbst ausgetragen wird, gehört zu den faszinierendsten Erfahrungen für Leser und Hörer. Allen fünf im Jahr 2004 entstandenen Kompositionen scheint der Titel des Bandes … dass hinfort keine zeit mehr sein soll (Apokalypse, Kap. 10) als Treibsatz eingeschrieben zu sein: Zeitinseln mit rhythmisch-metrischen Konturen tauchen allenthalben aus dem Klanggeschehen auf und lassen die Suche nach der verlorenen Zeit assoziieren. Der jeweils selbstgewählte point of view allerdings hat fünf Annäherungen an Beckmanns Zyk­lus von ganz und gar originärem Zuschnitt entstehen lassen. Die Triftigkeit eines jeden einzelnen gedanklichen wie kompositorischen Zugriffs belegt indessen die Vielschichtigkeit, aber auch die Unausstaunlichkeit, die Rätselhaftigkeit und (in einem sehr genauen Sinn) die Frag-Würdigkeit des vorgegebenen Sujets «Apokalypse».
Mit «hoti chronos» … das hinfurt keine zeit mehr sein sol … für Sopran, Flöte, Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier bezieht sich Volker Blumenthaler auf das 13. Bild des Zyklus (S. 35), welches das Ende aller Zeit[en] und also den Dualismus von der Begrenztheit des irdischen Lebens und der Ewigkeit des Göttlichen thematisiert. Ausgewählte Texte (u. a. von Petrarca, Hölderlin, Nietzsche und Poe) bringen eine ebenso ironische wie kritische Note ins Spiel. Sigle der zweisätzigen Drohungen für Klarinette in B/Bassklarinette, Violine und Violoncello von Benjamin Schweitzer ist eine ganz auf Reduktion bedachte Partitur, in der, obgleich die Singstimme ausgespart ist, die Vox humana gelegentlich mit Sprachlauten der Instrumentalisten das Klangbild perforiert. Schweitzer verzichtet auf konkrete oder illustrative Hinweise auf Beckmanns Lithografien. Vielmehr artikuliert sich die drohende Vision der Apokalypse gerade im «gefährlich leisen Tonfall der Musik», gleichsam in einem Negativ der Bilder.
Nicolaus A. Huber opponiert bereits mit dem Titel seiner Komposition Die Leber des Prometheus für
Sopran, Flöte, Klarinette, Violine, Vio­loncello und Klavier der Archaik des Offenbarungstextes. Vermittelt durch elf Textfragmente von Aischylos bis Charles Bukowski wird der Verklärung des Jenseits mit lakonischem, gleichwohl hochdifferenziertem Tonfall die «Verklarung» des Diesseits entgegengesetzt. Unüberhörbar die Nähe zum «Hüte dich!» in Robert Schumanns Zwielicht, wenn die Singstimme am Schluss Bukowskis Worte «und zum Teufel mit dem nächsten Morgen!» unbegleitet und schroff skandiert. Anders als Hubers auskomponiertes Aufbegehren gegen den Mythos reagiert Jan Kopp mit Enden für hohe Stimme, Altflöte, Viola und Klarinette auf die von Beckmann ins Bild gesetzten biblischen Stationen, wobei sich der Komponist dem Maler durch «eine bestimmte künstlerische Haltung, die man als melancholisch bezeichnen könnte», verbunden fühlt.
Ähnlich wie Nicolaus A. Huber wiederum nimmt Adriana Hölszky in Lemuren und Gespenster für Sop­ran, Flöte, Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier kaum auf Beckmann Be­zug. Vielmehr spürt sie mit nachtvogelartigen Volten der Instrumente wie auch der Sängerin einer Apokalypse im Inneren des Menschen nach, «dem Tier in uns, dem Bösen im Menschen». Die eigentliche Katastrophe spielt sich demnach weder im biblischen Urtext noch in den von einer tiefen Sehnsucht nach innerem Frieden kündenden Bildern Max Beckmanns ab, sondern im Betrachter der Bilder und im Hörer selbst. Steht der Hörer dem «zwielichtigen» (Bukowski-) Schluss von Hubers Stück gleichsam distanziert gegenüber, so ist er bei Hölszky selbst in das klangliche Geschehen involviert: Musik wird – mit Helmut Lachenmann zu reden – zur «exis­ten­ziellen Erfahrung».
Dass Max Beckmann solches «Tua res agitur!» im schöpferischen Umgang mit dem Text der Offenbarung verspürt hat, bezeugen die zahlreichen Selbstporträts, mit denen sich der Maler selbst in den Zyklus eingebracht hat. Dass sie sich andererseits einer vordergründigen Zeitzeugenschaft (des Zweiten Weltkriegs nämlich) verweigern, verleiht den Lithografien zeitlosen Rang. Die Antworten auf Beckmanns Zyklus, als welche die fünf Kompositionen zu verstehen sind, scheinen jeweils in eine neue Frage zu münden, sie haben offene Enden. Wie könnte es auch anders sein, da doch die Apokalypse seit je das große Skandalon ist! Sie wird es bleiben, auch für den Leser dieses so inspirierten, in jeder Hinsicht höchst bemerkenswerten Bandes.
Und schließlich: Indem sich hier Bilder, Texte und Musik sowohl kunst­theoretischen und musikologischen als auch theologischen, philosophischen und pädagogisch-didaktischen Fragestellungen öffnen, löst das Buch den selbstgestellten Anspruch interdiszi­plinären Denkens beispielhaft ein. Summa: Ein Buch, das auf solchem Niveau zur Teilhabe an einem unabschließbaren Diskurs einlädt, darf man getrost einen editorischen Glücksfall nennen.

Peter Becker