Houben, Eva-Maria / István Zelenka

1 Milieu – ein Buch nicht nur zum Lesen

Verlag/Label: Edition Howeg, Zürich 2009
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/05 , Seite 93

Die Veröffentlichung macht auf sehr authentische Weise auf einen besonderen aktuellen Bereich gegenwärtiger Kunstproduktion aufmerksam, in dem Musik, Literatur, Theater, auch Komposition, Darstellung, Interpretation und Rezeption nicht mehr die tradierte Geltung haben sollen, sondern Rollen, Funktionen, Inhalte und Gehalte miteinander verwoben werden: auf die Performance. So ist denn auch «1 Milieu nicht ausschließlich zum Lesen bestimmt, gedacht […]. Es gibt darin ebenfalls Texte, die wie Musik interpretiert werden könnten; andere laden zur Reflexion ein, weitere regen an, mit dem Buch wie mit einem Gegenstand zu spielen.» Wer das Buch in die Hand nimmt, muss sich auf einiges gefasst machen: auf etliche leere Seiten, auf Seiten mir nur einem Wort, auf Notenabbildungen aus ungewöhnlichen Kompositionen, auf die Bekannt­schaft mit dem Werk insbesondere István Zelenkas.
Eigentlich ist es nur der Form nach ein Buch, was die Verfasser hier vorlegen. Tatsächlich handelt es sich um zu verschiedenartigsten Texten – auch in Gestalt von Noten – verdichtete Momente performativer Kultur der Gegenwart, die teils dokumentiert, teils kommentiert, teils erzählerisch oder aphoristisch dargestellt, teils aber auch angeregt werden. Informiert wird primär über das Denken und Schaffen Zelenkas und derer, die sich von ihm anregen ließen – so wie er offenkundig den Anregungen John Cages und Mau­ricio Kagels folgte, diese freilich in Richtung auf die Hervorbringung «philophonischer Performance-Netzwerke» (Zelenka) radikalisierend. Ihm geht es um Einspruch gegen jeden Betrieb, jede Vermarktung, alle linearen Interessen – es geht um «aufmerk­sames In-der-Welt-Sein» (S. 39) aufgrund eines Bewusstseins, das durch seine Kunst geschult werden könne, die für den Menschen, deren «Aktivitäten, Aktionen, Bewegungen, Haltungen» geschaffen wurde. Neu freilich ist dies alles nicht.
Wer sich für diese Hervorbringungen, Ideen, Konzepte interessiert, sich zu eigener Aktivität durch «Aufführungen» mit Hilfe der Materialien und der beigefügten CD – sei es auch nur für sich selbst – anregen lassen möchte, wer Lust hat, sich mit einer von postmoderner (Des)Orientierung bestimmten Position zu befassen, möge das Buch zur Hand nehmen: Lesen soll man es nicht von vorne bis hinten, sondern sich den Dingen in sprunghaftem Zugriff, in momenthafter Aneignung, durch Vertiefung in einem Augenblick und Verlassen im nächsten zuwenden. Dies entspricht den Zeit- und Handlungsformen, von denen die Rede ist: Auch in der in Rede stehenden Musik Zelenkas und Houbens geht es um Prozesse, nicht um Produkte, um das Agieren zwischen vorbestimmten Klängen der Partituren und den Klängen der Umwelt; dabei werden Komponist, Interpret und Zu­hörer aus ihren tradierten Rollen gehoben und zur Verantwortung geführt: zu Verantwortung für die Klänge, für das Hören, für die Kunst. Der Rezensent indessen, der gerne Bücher von Anfang bis Ende liest, weil er daran glaubt, dass es Menschen gibt, die ihm etwas in kontinuierlich aufbauender Weise zu sagen haben, bekennt, dass seine Antwort auf die Frage Houbens, die sich auf die Haltung zu diesem allem richtet: «Willst du – oder willst du nicht?» (S. 264) eindeutig «Lieber nicht» lautet.

Peter W. Schatt