Zender, Hans
33 Veränderungen über 33 Veränderungen
Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5
«Das utopische Ziel, etwas Vergangenes unmittelbar präsent zu machen, kann nur erreicht werden durch die direkte Mitwirkung der eigenen schöpferischen Kraft und des eigenen Lebensgefühls», erläuterte Hans Zender sein Konzept der «komponierten Interpretation», das im Dialog mit Haydn, der Schumann-Fantasie und mit Schuberts Winterreise besonders eindrucksvoll Gestalt gewann. Dass es dabei weniger um postmodernes Spiel als um ein strukturelles und semantisches Befragen und Weiterdenken in die Gegenwart geht, zeigt auch Zenders aktuellste Bearbeitung eines «historischen» Stoffes, Beethovens 33 Veränderungen über einen Walzer von Diabelli op. 120.
«Wir sind durch die heutige geschichtliche Situation gezwungen zu lernen, dass die Individualität eines Komponisten nicht identisch ist mit einem Stil. Die eigentliche Herausforderung der Moderne ist, Pluralität zu gestalten.» In dieser Hinsicht war die Beethoven-Vorlage ein gefundenes Fressen für Zenders Intentionen, schließlich ist Beethovens berühmter Variationen-Zyklus ja selbst schon «Musik über Musik», ein Netzwerk historischer Anknüpfungen, das gleichzeitig visionär über sich hinausweist. Dass Zender gerade diesen doppelbödigen Aspekt der Vorlage kompositorisch reflektieren wollte, verrät schon die janusköpfige Widmung seiner 33 Veränderungen über 33 Veränderungen (2010/11): «Alfred Brendel als dem Vermittler größter Lebendigkeit der Tradition. Roland Diry und dem gesamten Ensemble Modern als Vermittler größter Lebendigkeit der Moderne.»
Gleich die 1. Variation, die die Elemente der Vorlage im kakophonischen Durcheinander der Motive, Rhythmen und Metren durcheinanderwirbelt und dekonstruiert, offenbart, dass Zender vor allem an den Brechungen und Nicht-Linearitäten, der Vielschichtigkeit und Mehrdimensionalität des Stoffes interessiert ist. Alles Weitere ist der Versuch, in allen nur erdenklichen Abständen zum Original das Gegebene «zu Impulsen für neue musikalische Formen werden zu lassen. Die Stile werden selber als Variationsmöglichkeiten benutzt.» Zender legt darin (nicht nur in so manch wunderbarer Orchestrierung) einen schier unerschöpflichen Einfallsreichtum zwischen den Extremen derber Klangtumulte und trübsinniger Zersplitterung an den Tag. Da kann das grandios aufspielende Ensemble Modern schon mal klingen wie Zappa und im nächsten Augenblick wie ein Haydn-Quartett.
So manch schräg-verschrobene und ironisch gebrochene Eingebung evoziert das Gefühl, der Geist des späten Mauricio Kagel schwebe über dieser Partitur; in Momenten expressiver Überzeichnung und Überreizung dramatischer Orchester-Chiffren (nicht zuletzt in Bezug auf Wagner) scheint Bernd Alois Zimmermanns hier Pate gestanden zu haben. Und wenn am Ende der Bonner Meister selbst in Gestalt von fernen Originalklängen aus dem Off diese Komposition scheinbar ungeschminkt betritt, um sie standesgemäß zu beenden, wird nur noch evidenter, dass die Kunst der Vergangenheit als «Original» die Gegenwart nur betreten kann wie ein Schauspieler die Bühne.
Dirk Wieschollek