Ives, Charles

A Song Collection

Verlag/Label: 6 CDs, Naxos 8.506030
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/06 , Seite 84

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 4
Booklet: 3

Die Gattung des Lieds begleitete Charles Ives über die gesamte Dauer seines kompositorischen Schaffens – bis hin zu seiner wohl letzten vollendeten Komposition Sunrise von 1926. Sämtliche Facetten seiner Stilistik finden sich in den Liedern, die er im Laufe der Jahre schrieb – oft auch innerhalb einer einzigen Komposition: Bezüge zur amerikanischen volkstümlichen und geistlichen Musik, vorweggenommene avantgardistische Experimente, politische Statements und nicht zuletzt eine gehörige Portion Ironie. Dabei bildet die Sammlung der 114 Songs, die Ives zu Lebzeiten publizierte, nur einen Ausschnitt aus seinem Lied-Korpus: Insgesamt gibt es knapp 200 Stücke, von denen viele in verschiedenen Versionen vorliegen.
Das Label Naxos veröffentlichte bereits vor einigen Jahren sechs Einzel-CDs mit sämtlichen Ives-Liedern; die Kollektion liegt nun in einer Box vor. Es scheint sich um die erste komplette Edition dieser Werkgruppe zu handeln. In den 1990er Jahren erschien bereits beim Label Albany eine ähnliche Sammlung mit Vollständigkeitsanspruch, doch diese umfasst nur vier CDs. Naxos bietet also wohl zumindest quantitativ mehr.
Sämtliche Lieder wurden in der Yale University aufgenommen – an der Ives studierte –, und die meisten der zahlreichen beteiligten Sänger und Sängerinnen stehen mit der Universität auf die eine oder andere Weise in Verbindung. Die meisten der Musiker sind noch jung, doch finden sich auch erfahrene Opernsänger unter ihnen. So gut wie alle Stimmlagen sind abgedeckt, sogar ein Countertenor (den Ives wohl kaum besetzt haben dürfte) ist dabei.
Die Anordnung der Lieder in alphabetischer Abfolge ergibt Sinn: Auf diese Weise erhält der Hörer einen lebendigen Eindruck von Ives’ stilistischer Buntscheckigkeit, wenn etwa auf das avancierte The Cage das religiös inspirierte The Camp Meeting unmittelbar folgt. Außerdem sind die einzelnen Lieder in alphabetischer Reihenfolge leicht zu finden, und eine andere (stilistisch oder chronologisch orientierte) Ordnung wäre aufgrund der enormen Vielfalt des Werkkorpus und der von Ives vorgenommenen zahlreichen Überarbeitungen äußerst problematisch. So­weit außer dem Klavier noch weitere Instrumente im Notentext vorgesehen sind – etwa Streichquartett in Aeschylus and Sophocles –, werden diese auch mit einbezogen.
Dass bei der Gesamteinspielung einer so gigantischen Werkgruppe nicht jede einzelne Liedinterpretation gleichermaßen gelungen sein kann, versteht sich von selbst. Nichtsdestoweniger ist insgesamt ein hohes künstlerisches Niveau zu konstatieren. Einzelne Sänger aus der großen Gruppe hervorzuheben verbietet sich angesichts der kollektiven Leistung, die hier gestemmt wurde. Vielleicht mutet die eine oder andere Darbietung doch ein wenig zu allgemein und kursorisch an. Zwischentöne werden nicht immer angemessen beleuchtet, und auch auf den gelegentlich erforderlichen rotzig-frechen Ton ist oft zugunsten einer allzu klassisch anmutenden Einebnung verzichtet. Doch das sind nur kleine Kritikpunkte angesichts eines durchweg imponierenden Projekts.

Thomas Schulz