Ab Goldap

Rüdiger Carl im Gespräch mit Oliver Augst

Verlag/Label: Weissbooks, Frankfurt 2014, 204 Seiten, 35 Euro
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/06 , Seite 95

«Ich hab oft kein Bock mehr gehabt.» Das Leben kann so schnörkellos sein, ehrlich, offen – doch kaum einer ist so schnörkellos, ehrlich und offen wie Rüdiger Carl, der bedenkenlos Auskunft gibt über seine Existenz als Mensch und Künstler und wie das alles begann. «Ich hab oft kein Bock mehr gehabt.» Die Lustlosigkeit, die in der Rückschau den Widerwillen vor der schulischen Realität ausdrückt, deutet nicht darauf hin, dass Rüdiger Carl, der am 26. April 1944 in Goldap in Ostpreußen zur Welt kam, einmal eine bedeutende Stelle im Free Jazz deutscher Provenienz einnehmen würde. In einem langen Gespräch mit Oliver Augst (Komponist, Hörspielautor, Sänger), das am 9. August 2011 begann und, natürlich mit Unterbrechungen, am 12. Dezember 2012 endete, wendet Rüdiger Carl sein Inneres – und dazu gehören auch die verborgenen Stationen und Brüche – nach außen, benennt dabei auch seine Vorbehalte: «Es ist überhaupt nicht mein Ding, mich selber so aufzublättern.»
Der Seufzer über die ihn heimsuchende Schulpflicht hinderte den Musiker, Komponisten, Hörspiel­darsteller und Sänger Rüdiger Carl nicht daran, diese kreative Seite seiner Existenz als Lebensbegradigungsinstrumente zu nutzen. Carl, der mit Lol Coxhill und Martin Kippenberger, mit Albert Oehlen und Albert Mangelsdorff in Frankfurt und im «Underground» arbeitete, scherte sich nicht darum, ob das, was er machte, mehrheitsfähig war. Nach einer Schriftsetzerlehre beim Bärenreiter-Verlag in Kassel zog er «wegen akuter Bundeswehrgefahr» nach West-Berlin und fand dort 1968 die Tür zum Free Jazz, den er jedoch erst zwei Jahre später in Wuppertal in seiner globalen Größe wahrnahm und dann selbst pflegte. Dort lernte er Peter Brötzmann kennen, und dort begann eigentlich erst Carls Profimusikerlaufbahn.
Als Mitglied des Globe Unity Orchestra (1973–76) und als langjäh­riger Kooperationspartner für Irène Schweizer war Rüdiger Carl in Hierarchien eingebunden, die er dann als Solist hinter sich ließ. Ein langer Erzählstrang spricht von seinen DDR-Erfahrungen, von Produktionen für das Ost-Berliner Radio und über den Netzwerker und Peitz-Festival-Organisator Uli Blobel, der damals aktiv am Rande der (DDR-)Legalität das musikalische Freiheitsgefühl der im realen Sozialismus lebenden Freaks lenkte.
Die fünfzehn Gespräche zwischen Rüdiger Carl und Oliver Augst setzen sich nicht linear fort, sie tauchen tief ein in die Lebendigkeit des Free Jazz und kehren andererseits immer wieder zurück in Carls Kindheit. Oma Tinka («… sie war von Natur heiter …») animierte ihn zu ersten Gehversuchen auf der Ziehharmonika und fütterte ihren Schallplattenspieler mit Musik von Vico Torriani und Peter Alexander. Vielleicht war die Begegnung mit dieser Art Musik für Rüdiger Carl die Initialzündung, den Hauptstrom zu verlassen und die Nebenflüsse, -bäche und -rinnsale zu befahren.
Dem Buch liegt eine CD mit siebzehn Liedern von Rüdiger Carl bei, die 2011 von Oliver Augst aufgenommen und produziert wurde. Außerdem zeigt eine Bildstrecke Fo­tos aus dem Leben von Rüdiger Carl.

Klaus Hübner