Brown, Earle

Abstract Sound Objects

Verlag/Label: Wergo WER 6745 2
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/03 , Seite 85

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

Ein Leben in Musik. Dahinter verbirgt sich nicht nur die bei Wergo inzwischen komplett auf CD erschienene Edition der legendären «Contemporary Sound Series», die Earle Brown zwischen 1960 und 1973 auf 18 Langspielplatten aufgenommen hat. Davor und danach gestaltete sich ein Leben in Musik, Earle Browns Leben in Musik, wie eine Partitur, in der die Inspiration aus Werken der bildenden Kunst eben­so Platz fand wie seine Vorstellung von Musik als grafisch-mathematischer Dis­ziplin.
Brown kam in den 1950er Jahren nach New York, wo er auf John Cage traf und mit ihm und Morton Feldman, David Tudor und Christian Wolff die «New York School» der Komponisten repräsentierte. Diese Schule bildete sich sozusagen als Nebenlinie der von Malern und Dichtern seit Anfang der 1940er Jahre gegründeten Gruppe von Künstlern des Abstrakten Expressionismus: Jackson Pollock, Willem de Kooning oder Alexander Calder.
Die mit Home Burial beginnende Übersicht über Earle Browns abstract sound objects erlaubt einen Überblick über einen Teilbereich seines Klavierwerks zwischen 1949 und 1995. Home Burial (nach einem Gedicht von Robert Frost) widmete Brown seiner ersten Ehefrau Carolyn Brown, Tänzerin und Mitgründerin der Merce Cunningham Dance Company. Da die Partitur erst vor Kurzem wiederentdeckt wurde, stellt die Interpretation durch Sabine Liebner eine weltweite Erst­einspielung dar. Die Musik schreitet in traditioneller Färbung, sie ist sparsam im Umgang mit Akkorden, sie setzt Klangpunkte, die aus einem Bild Jackson Pollocks entnommen sein könnten, und endet in einem finalen, heftig aufwallenden Schlussakkord, der sich einige Takte vorher in einer Klangtraube ankündigt.
Earle Brown setzte mit dem Notationsprinzip der «offenen Form» eine wichtige Landmarke für die Interpreten, deren spontane Spielweisen entscheidend für das jeweilig vom Komponisten konzipierte Werk wurden. Striche und Balken unterschiedlicher Stärken spiegeln den Begriff der Unbestimmtheit in den Stücken Browns wieder. Besonders ohrenfällig sind da­bei die zwischen 1952 und 1954 entstandenen sieben Stücke, die unter dem Namen Folio (ein historisches Papier- und Buchformat) als grafische Notation verfasst wurden. Sabine Liebners Interpretation spürt dabei den mathematischen Berechnungen nach, die Brown aufgrund des Kompositionsprinzips des Musiktheoretikers und Komponisten Joseph Schillinger als Resultat der bereits genannten Linien- und Balkenstruktur zur Vorlage nutzte. Die Musik klingt statisch und «berechnet», fasziniert allerdings aus diesem Grund besonders. In Erwartung unvorhersehbarer Klangkonstellationen steht der Hörer immer wieder aufs Neue vor dominant auftauchenden Überraschungsmomenten.
1964 beendete Brown mit Corroboree zunächst seine Kompositionsarbeit für Klavier bis zum Jahr 1995. Erst mit Summer Suite ’95 kehrte er zum Klavier zurück. Die 13 kurzen Stücke konzentrieren sich auf ein (imaginäres?) Klang­geschehen einzelner Tage in den Monaten Juni, Juli und August 1995. Zunächst grafisch notiert, zeichnete Brown später am Keyboard und mit einem Computer das Stück in Notenschrift nach. Dadurch hat es seinen Charakter als «unbestimmte», ja, fast aleatorisch zu nennende Klangsprache nicht aufgegeben.

Klaus Hübner