Lachenmann, Helmut

Accanto / Consolation I / Kontrakadenz

Verlag/Label: Wergo WER 67382
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/03 , Seite 83

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 5
Booklet: 4
Gesamtwertung: 5

«Angesichts dessen, wozu die Realität sich auswuchs, ist das affirmative We­sen der Kunst, ihr unausweichlich, zum Unerträglichen geworden. Sie muss gegen das sich wenden, was ihren eigenen Begriff ausmacht», schrieb Theodor W. Adorno in seiner Ästhetischen Theorie. Das heißt, dass nur in der Negation des Schönen das utopische Potenzial der Kunst noch aufgehoben werden kann: ihre Fähigkeit, das Bild eines in sich versöhnten Ganzen zu entwerfen.
Mit accanto scheint Lachenmann Adornos Gedanken zur Musikästhetik der Gegenwart unmittelbar in Klang – oder vielmehr Nichtklang – zu übersetzen. Mozarts berühmtes Klarinettenkonzert bildet – als anwesende Abwesenheit – den Kern. Sein Wohlklang ist im Hintergrund zu erahnen, doch reduzieren sich Töne auf Anspielgeräusche, Melos und thematische Substanz zu rhythmischen Skeletten, die wie gespensterhafte Klopfzeichen aus einer besseren Welt ins Jetzt herüberdringen. Für einen einzigen magischen Moment ist es, als ob ein Fenster sich öffne: da durchdringt für wenige Takte ein Zitat des Mozart’schen Originals unverstellt die blockierende Mauer. Diese Einblendung wirkt wie ein Blitz, der eine finstere Nacht momenthaft erhellt.
Die Einspielung von accanto mit Eduard Brunner (Klarinette) und dem Rundfunk-Sinfonieorchester Saarbrücken unter Leitung von Hans Zender ist, was es inzwischen auch im Bereich der «Neuen Musik» schon gibt: eine historische Aufnahme. Die gesamte CD ist nämlich die Wiederveröffentlichung von einst auf Schallplatte
dokumentierten Interpretationen, die zwischen 1968 und 1977 entstanden sind: Gedacht ist sie als Hommage an Helmut Lachenmann anlässlich seines 75. Geburtstags.
Wie accanto, so verweigert auch das 1970/71 entstandene Orchesterstück Kontrakadenz den glattpolierten Klang, wenn auch mit anders akzentuierter Absicht. Die vermeint­liche Mühelosigkeit des Musizierens, die das Publikum beim Auftritt von Instrumentalvirtuosen als Teil der Darbietung erwartet, wird als bloßer Schein enttarnt, die Arbeit bei der Erzeugung von Tönen in den Mittelpunkt gestellt.
Wohl nichts mit Franz Liszts gleich betitelten Kompositionen zu tun hat Lachenmanns Consolation I für zwölf Stimmen und vier Schlagzeuger. Ein eher trostloser als trostspendender Text Ernst Tollers bildet ihre Basis: «Gestern standst du / An der Mauer. / Jetzt stehst Du / Wieder an der Mauer …» Anwesende Abwesenheit ist auch hier das Prinzip. Nicht als deutlich vernehmbare Botschaft ist Tollers Text zu hören, sondern aufgelöst in einzelne expressiv hervorgestoßene Wörter, Phoneme, bloße Reibe- und Zischlaute, die in einen Raum aus Schlagzeugklängen eingetaucht sind. Von den drei Werken dieser CD wirkt Consolation freilich am wenigsten abweisend: denn als wahre «Tröstung» erlaubt Lachenmann hier auch Ansätze zu Lyrik und kan­tablen Melodiebögen.
Gerhard Dietel