Berg, Alban / Hans Werner Henze

Alban Berg: Lulu-Suite / Hans Werner Henze: Appassionatamente plus

Verlag/Label: Cybele SACD 860.801
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/06 , Seite 85

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 4
Booklet: 5
Gesamtwertung: 4

Ähnlich den drei Bruchstücken aus «Wozzeck» verband Alban Berg wesentliche Musiken aus seiner zweiten Oper zu einer Lulu-Suite für Orchester mit Sologesang. Ihre Hermann Göring abgerungene Uraufführung mit der Staatskapelle Berlin unter Erich Kleiber Ende November 1934 war ein künstlerischer Einspruch gegen die nationalsozialistische Kulturpolitik, der den Dirigenten seine Stellung kostete und in die Emigration trieb.
Kernstück der Suite ist das «Lied der Lulu», darin sie sich als femme fatale bekennt. Freilich gehen die sie umgebenden Personen nicht an Lulus erotischem Verlangen zugrunde, sondern an ihren eigenen sexuellen Fantasien und Projektionen. Folgerich­tig gewinnt Berg ihre musikalischen Charaktere aus Permutationen der Zwölftonreihe Lulus. Dem Eröffnungs-«Ron­­do», das um den schwärmerischen Alwa Schön kreist (bei Wedekind Schauspieler, bei Berg Komponist), folgt eine «atemlos gedrängte Filmmusik»: ein spiegelsymmetrisch angelegtes Ostinato. Der vierte Satz, Variationen über ein Bänkellied von Wedekind, entpuppt sich als Drehorgel-Melodie. Das abschließende «Ada­gio» beschreibt Lulus unaufhaltsamen Abstieg – bis zu ihrem Todesschrei über einen Zwölftonakkord.
Auch Hans Werner Henzes Orchesterwerk Appassionatamente plus liegt ein eigenes Musiktheaterstück zugrunde: Das verratene Meer. Zwischen 1986 und 1989 entstanden, band er die instrumentalen Zwischenspiele hernach zu einer Orchesterfantasie. Im Zuge seiner Revision der Oper, de­ren Sujet er einem japanischen Roman entlehnte, entstand 2003 das betreffende Orchester-Kaleidoskop. Ne­ben dem (in der vorliegenden Aufnahme mit neun statt fünf Spielern besetzten) Schlagwerk verweist das etüdenartig tönende Klavier auf den Jungen Noboru. Durch ein Loch im Wandschrank erspäht er den Liebesakt seiner Mutter mit dem Seemann Ryuji, dem Henze ein zärtliches Streicher-«Adagio» widmet. Den Halbwüchsigen aber bewegt nur das Meer. Und der Beruf des Seemanns, der dem Meer gehöre und nicht der Mutter.
Die orchestrale Sturmflut, die in der Oper eine Szenenverwandlung über­brückte, spiegelt das Gewoge der Leidenschaften, das die Opernfiguren ergreift – nicht zuletzt die Jungenbande, die den Seemann lyncht, weil er das Meer verriet. Stefan Soltesz und seine hochmotivierten Essener Philharmoniker unterlassen jeden Versuch, den Widerstreit zwischen Sexus und Eros, Triebleben und Zartgefühl, Lebensgier und Todessehnsucht, Schönheit und Verruchtheit, der in beiden Werken zur Katastrophe führt, zu beschönigen. Alles Geheimnis liegt im Notentext, den die Essener getreulich und zugleich con passione wiedergeben.

Lutz Lesle