America

Werke von Copland, Reich, Cage, Feldman, Bernstein und Barber

Verlag/Label: Hänssler Classics CD 93.306
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/04 , Seite 83

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 4

Seit 2003 ist der britische Dirigent Marcus Creed nun Künstlerischer Leiter des SWR Vokalensembles Stuttgart und er hat in dieser Zeit viele lohnenswerte Einspielungen mit selten aufgeführter Chormusik des 20. Jahrhunderts veröffentlicht. Dabei legt er einen besonderen Akzent aufs Repertoire amerikanischer Provenienz, wie etwa die CDs mit Werken von Charles Ives und Elliott Carter zeigen. Nun hat er sich mit dem Ensemble erneut US-amerikanischen Komponisten gewidmet – gleich sechs an der Zahl.
Die schlicht America betitelte CD verschafft nicht nur einen hochinteressanten Überblick über die künstlerische Physiognomie grundverschiedener Künstlerpersönlichkeiten, sondern ist auch bestens dazu angetan, eventuell vorhandene Vorurteile über in den USA vorherrschende stilistische Buntscheckigkeit zu entkräften. Wenn eines die sechs Werke dieses Programms eint, dann ist es im Gegenteil ein gewisser Purismus jeweils sehr individueller Prägung. Das gilt natürlich für den unverwechselbaren Personalstil etwa Morton Feldmans, wie er sich in der knapp halbstündigen, von Viola- und Schlagzeugsoli dominierten und stets im äußersten Pianissimo-Bereich angesiedelten Meditation Rothko Chapel offenbart. Oder für die asketische Klangwelt des späten John Cage in Five, einem jener «Nummernstücke», in denen die Musiker das vorgegebene Tonmaterial frei organisieren.
Eine Anlehnung an kompositorische Prinzipien des Mittelalters bzw. der Renaissance zeigt sich sowohl in Steve Reichs Proverb, dem die Organum-Technik zugrunde liegt, als auch in Aaron Coplands Four Motets, einem Frühwerk aus der Pariser Studentenzeit des Komponisten, das zwar noch wenig von dessen Reifestil ahnen lässt, aber nichtsdestoweniger durch äußerste Professionalität in der Satztechnik sowie Homogenität des Ausdrucksspektrums beeindruckt. Auch Leonard Bernstein lässt sich in seiner späten Missa brevis von mittelalterlicher Vokalmusik inspirieren, und dies mit einer Strenge des Ausdrucks, die man bei ihm nicht unbedingt erwartet hätte. Vielleicht am konventionellsten, wenn auch nicht weniger pa­ckend, präsentiert sich Samuel Barber in A Stopwatch and an Ordnance Map für Männerchor und Pauken nach einem Gedicht von Stephen Spender.
Angesichts dieser imponierenden Einheit in der Vielfalt mutet die Frage «Was ist typisch amerikanisch?», wie sie das Beiheft stellt, im Grunde relativ unwichtig an. Es handelt sich einfach um durchweg faszinierende Musik, komponiert von Amerikanern.
Und natürlich ist, wie stets, die vorbildliche Klang- und Ensemblekultur des SWR Vokalensembles Stuttgart zu bewundern. Die Sänger überzeugen durch ein Höchstmaß an rhythmischer Akkuratesse, erzielen in den Pianissimo-Gefilden der Werke von Feldman und Cage geradezu magische Wirkung, scheuen aber, bei Barber und Bernstein, ebenso wenig den energischen, aggressiven Zugriff. Vorbildlich.

Thomas Schulz