American Mystic
Music of Alan Hovhaness
Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 5
Booklet: 3
Ein Jahr älter als John Cage, den er um acht Jahre überlebte, steht Alan Hovhaness für eine andere Version amerikanischer Musik des 20. Jahrhunderts. Während die Aleatorik des ersteren dem Serialismus der europäischen Nachkriegsavantgarde die Stirn bot, klingt Hovhaness gleichzeitig entstandenes Werk dem ersten Eindruck nach zuweilen nicht einmal spät-, sondern ganz einfach romantisch. Doch hinter der beliebten Kantilene des Prayer of St. Gregory für Trompete und Streicher von 1946, hinter den schlichten Liedformen etwa der vier Bagatellen für Streichquartett op. 30, hinter der zweiten Symphonie Mysterious Mountain, mit der Leopold Stokowski Hovhaness 1955 zur Berühmtheit verhalf, steht noch eine andere Realität: die der väterlicherseits armenischen Herkunft des Komponisten und seiner Reisen in den Nahen, Mittleren und Fernen Osten. Das Label Delos hat zu seinem Hundertsten eine gefällige Auswahl aus Hovhaness umfangreichem Werk zusammengestellt, die freilich, indem sie ganz auf solche populären Werke setzt und für die Interpreten, das Seattle Symphony Orchestra unter der Leitung von Gerhard Schwarz, das Shanghai Quartet oder die Ohio State University Band, keine Zeile im Booklet übrig hat, zu einem «Greatest Hits»-Album tendiert.
Was angesichts der Dreiklang-Harmonien mit gelegentlich enharmonischen Wendungen und häufigen Auflösungen in reines Dur nicht sofort auffällt, ist, dass Hovhaness weniger im klassischen Sinn moduliert als vielmehr die häufig pentatonischen oder modalen Melodien in der Symphonie Nr. 2 etwa im Maqam Kurd oder der phrygischen Kirchentonart mit Moll- und Dur-Akkorden harmonisiert. Was sich eigentlich einer anderen Herkunft verdankt, wird romantisiert: Es sind in The Rubaiyat of Omar Khayyam die gesprochenen Texte des persischen Dichters aus dem 11. Jahrhundert ins Englische übersetzt so wie gewissermaßen auch die modalen Skalen , die den Zuhörer in eine ferne, orientalische Welt versetzen. Assoziationen an balinesische Musik weckt auch der Streichquartettsatz Gamelan in Sosi Style eigentlich erst beim Nachlesen des Titels. In der Konzertsuite The Flowering Peach zeigt sich indes, dass es sich nicht um eine exotistische Aneignung des Fremden handelt, sondern dass Hovhaness versuchte, seine heterogenen Anregungen auf einen eigenständigen Nenner zu bringen, wie etwa die ungewöhnliche Besetzung zeigt: Die Hauptrolle spielt ein Saxofon, begleitet von Klarinette, Harfe und Perkussion. Die nahöstlichen Modi illustrieren das alttestamentarische Thema von Noah und dem Bau der Arche.
In einem freien Sinn romantisch ist auch And God Created Great Whales, eine zwölfminütige Komposition, in der das Sinfonieorchester, passagenweise ad libitum Meereswellen illustrierend, Rahmen und Hintergrund für die glissandierenden Rufe eines Buckelwals abgibt. Das Orchester spielt sozusagen nur «zweite Geige»: ein höchst origineller Umgang mit dem Erhabenen.
Dietrich Heißenbüttel