Maze

(Amsterdam) Memory Space

Verlag/Label: Unsounds 37U
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/06 , Seite 86

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 4
Booklet: 4

Alvin Lucier komponierte 1970 unter dem Originaltitel (Hartford) Memory Space ein Stück für eine beliebige Anzahl von Instrumentalisten und aufgenommene Umweltklänge. Anlässlich des 100. Geburtstags von John Cage am 5. September 2012 nahm das niederländische Ensemble Maze – hervorgegangen aus dem Maarten Altena Ensemble – eine eigene Version von einer Stunde Dauer unter dem Titel (Amsterdam) Memory Space auf.
In den Instruktionen von Alvin Lucier heißt es: «Gehe in eine Außenumgebung (städtisch, feindlich, gutartig) und nehme mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln (Speichermedium, Tonband, Notation) die Klangsituationen der Umwelt auf.» Einige Zeit später, so Lucier, sollten die gespeicherten Klänge mit den eigenen Stimmen und Instrumenten mithilfe der Erinnerungsmöglichkeiten neu interpretiert werden. Dieser zeitliche Abstand zwischen Aufnahme und kreativ gestalteter Wiedergabe lässt die Erinnerung an die Aufnahmesituation verblassen, leistet jedoch gleichzeitig einen wichtigen Interpretationsansatz: Das aus dem Gedächtnis wiederbelebte Klangmaterial unterwirft sich in Grenzen dem Zufallsprinzip, wie Cage es für viele seiner Arbeiten einsetzte. Die «Amsterdam»-Version der Lucier-Klangarbeit speichert – unverständliche – Sprach- und Sprechgeräusche großer Menschenmengen – und bildet sie im instrumentalen Kontext nach.
Indem die Musiker ihren individuellen Erinnerungsspeicher durchforsten und das Gefundene im persönlichen Klangraum ausarbeiten, entsteht im Rahmen der kollektiven Interpreta­tionsarbeit ein vollkommen neuer Klangraum. Hier überlappen sich die Erinnerungsmodule auf eine ganz persönliche In-sich-hinein-Hörweise, und es scheint so, als drifteten die einzelnen «Klangspuren» im Kollektiv in sehr unterschiedliche Richtungen. Das wiederum garantiert, dass Luciers Komposition niemals in kompletter Form wiederholbar ist.
Weil der Komponist ausdrücklich erlaubte und wünschte, dass sein Stück auch außerhalb von Hartford aufgeführt wird – lediglich der Name des Ortes sollte im Titel ausgetauscht werden –, war seine zweite Bedingung von größerer Bedeutung: Die aufgenommenen Außenklänge müssen aus der jeweiligen Stadt stammen. Die Ensemblemitglieder von Maze liefen also mit iPod und Kassettenrekorder durch Am­sterdam und reproduzierten die gespeicherten Klänge später auf ihrem jeweiligen Instrument.
Aus der Kombination von aufgenommenem Klangmaterial, verschiedenen Instrumenten und dem Erinnerungsspeicher der Aufführungen entnommenem Tonmaterial gestaltet das jeweilige Ensemble ein Stück Stadtmusik – ob aus Hartford, Tokyo, Middletown oder – wie im vorliegenden Fall – Amsterdam. (Amsterdam) Memory Space darf man als exquisite Sound­arbeit zum Thema Kommunikation verstehen.

Klaus Hübner