Nauck, Gisela (Hg.)
An den Rändern des Maßes
Der Komponist Gerald Eckert
Dieses Buch hat in mehrfacher Hinsicht Gewicht. Fast 400 Seiten über einen Komponisten das könnte abschrecken, zumal er nicht zu den bekanntesten seiner Zunft zählt. Dazu gehört Mut, und der hat sich gelohnt. Gerald Eckert, Jahrgang 1960, stammt aus Nürnberg und lebt seit 2000 in Eckernförde, wo er sich auch als Initiator und Vermittler für die Neue Musik einsetzt. Zudem ist er Ensembleleiter und Pädagoge, Konzert- und Festivalorganisator, Maler und Grafiker.
Diese Bandbreite facettenreich zu reflektieren, ist der Anspruch der Publikation, der uneingeschränkt eingelöst wird. Das betrifft auch die Konzeption des Buches, das selbst eine gelungene Komposition ist. Die einzelnen Aufsätze sind detailreich und tauchen tief in die Materie ein, beißen sich aber nicht fest, sondern öffnen immer wieder neue Fenster und nehmen verschiedene, ja mitunter gegenläufige Perspektiven ein.
Biografische Aspekte ergänzen schlüssige Werkanalysen, illustriert mit etlichen Notenbeispielen. Vier Gespräche, die die Herausgeberin Gisela Nauck mit Gerald Eckert führte, umreißen zentrale Fragestellungen seiner schöpferischen Arbeit: das Verhältnis von Klang und Inhalt, die Erforschung des Materials, Raum und Zeit, das Komponieren im Kontext anderer künstlerischer Betätigungsfelder. Des Weiteren sind ästhetische und philosophische Texte enthalten, zum Teil von Eckert selbst, sowie «Spots» auf Spezielles wie seine musikalisch notierte Malerei. Und schließlich: zwei Einschübe mit Abbildungen von Tuschezeichnungen und Ölbildern Eckerts, die zum Innehalten einladen, die Fantasie anregen und mit seiner Musik korrespondieren. Allein die Musik selbst fehlt eine CD mit Klangbeispielen beizufügen wäre perfekt gewesen.
Gerald Eckert bewegt sich in akustischen Randzonen, die existenzielle Randzonen versinnbildlichen. Indem er die Brüchigkeit des Klangs erforscht, seine Erstarrungen, seine Instabilität, berührt er in künstlerischer Abstraktion auch politisch-gesellschaftliche Fragen denn wie schnell ein vermeintlich stabiles System instabil werden und in sich zusammenfallen kann, das ist in der Natur wie in der Kulturgeschichte der Menschheit gleichermaßen zu beobachten. Diese Verbindungen sieht Eckert selbst, doch er überlässt es anderen, sie hervorzukehren, etwa dem Philosophen Johannes Bauer, der in der «Wahrnehmung von Rändern» eine «Epochensignatur der Moderne» sieht.
Eng sind auch Eckerts Beziehungen zur Literatur, die ihn inspiriert, die er aber nicht im traditionellen Sinne vertont: Gattungen wie Lied, Oper oder Kantate spielen in seinem Schaffen keine Rolle. Er bevorzugt variable Besetzungen, auch mit Sprech- oder Singstimmen. Hochspannend bei ihm ist nicht zuletzt das Verhältnis der Künste zueinander. Zwar steht der Komponist im Vordergrund, doch als Bildender Künstler ist Eckert, obwohl Autodidakt, kein Dilettant. An den Rändern des Maßes liefert umfassende Betrachtungen einer vielschichtigen Künstlerpersönlichkeit eines Visionärs, der indes mit beiden Beinen im Leben steht, nicht nur im Musikleben.
Egbert Hiller