Polscher, Mark

Anakoluth. It Ain’t Me / Towards Beauty / And So They Come / Oneness

2 CDs

Verlag/Label: marc aurel edition MA 20043
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/01 , Seite 90

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 4
Booklet: 5
Gesamtwertung: 4

Mark Polscher hat Fagott studiert, als Saxofonist und Flötist in internationalen Jazz- und Rockbands gespielt, hat als Studiomusiker bei vielen Schallplatten- und Rundfunkaufnahmen mitgewirkt. Seit 1990 hat der Stock­hausen-Schüler außerdem mehr als sechzig Film- und Bühnenmusiken geschrieben, hat eine Schallplattenfirma gegründet, hat mit Profi- und Laienchören gearbeitet. Und nicht zuletzt ist Polscher mit Vorträgen, Work­shops und Aufsätzen im Musikleben präsent. Die Heterogenität seiner musikalischen Biografie, in der einiges parallel abgelaufen ist, einiges in völlig unterschiedlichen Zeiträumen und ästhetischen Zusammenhängen, hat Polscher zum Stoff für ein 105 Minuten dauerndes Hörtheater mit dem Titel Anakoluth gemacht, entstanden in den Jahren 2005 und 2006, und in den Folgejahren bis 2009 noch mehrmals überarbeitet bzw. abgemischt.
Den Begriff «Anakoluth» als Titel seiner elektroakustischen Komposition, die irgendwo im Grenzland zwischen Musique concrète und purer elektronischer Musik fluktuiert, hat sich Mark Polscher bei der Linguistik ausgeliehen. Im sprachwissenschaftlichen Zusammenhang ist mit «Anakoluth» eine mündliche Äußerung gemeint, in welcher permanent die Satzkonstruktion durch Einschübe und Neuanfänge verändert wird, dennoch einen gleichbleibenden Inhalt beschreibend. Gemeint ist mit «Anakoluth» aber auch eine rhetorische Figur, ein literarisches Stilmittel. Polscher benutzt, übertragen auf musikalische Vorgänge, beide Bedeutungsebenen des Begriffs, spielt mit ihnen, mal absichtslos-assoziativ, mal mit streng formalistisch agierendem, strukturell ordnendem Ohr. Anders formuliert: Nichts ist hier so, wie es scheint, kaum ein Klang in Anakoluth lässt sich mit Sicherheit als geräuschhaftes Fundstück aus dem konkreten Leben identifizieren, und hinter jedem «natürlich» scheinenden Klang kann, darf, muss die artifiziell ordnende Hand des Komponisten vermutet werden.
Polschers Hörtheater in vier Zo­nen mit 25 Bereichen unterschied­licher Dauer und Charakteristik will den assoziativ virtuosen Rezipienten. Der Komponist, der schon allein mit der Wahl des Gesamttitels seiner Leidenschaft für das Spiel mit Camouflagetechniken Ausdruck verleiht, treibt diese erhoffte, erwünschte assoziative Fantasie des Hörers noch weiter an mit Hilfe von poetisch-kryptisch anmutenden Überschriften. Zone eins beispielsweise firmiert unter der Überschrift It Ain’t Me. Die akustisch-musikalischen Kapitel darin heißen «Bonjour Madame», «The Transient Area», «A Cold Spell around June», «Rosy Thrush Tanager» und «On Aboutism». In «Bonjour Madame» wird jenes Konvolut von rohen und bearbeiteten Ton-Klang-Sound-Materialien eingeführt, das sich im weiteren Verlauf durch harte Konfrontation mit Neuem oder durch akribisch subtile Bearbeitung verändert, sich dennoch immer wieder quasi leitmotivisch zu erkennen gibt und damit als Kern dieses anakoluthischen Hörtheaters zu begreifen ist, als Assoziations-Hörgeländer. Bisweilen ist das so spannend wie ein Roman von Haruki Murakami, bisweilen kommt es einer unmäßigen Herausforderung gleich, wenn Klänge unausgesetzt in mikroskopischer Schärfe zur Schau gestellt werden.
Annette Eckerle