Angels

Werke von Richard Ayres, Marco Blaauw, Georg Friedrich Haas, Lisa Lim, Martijn Padding, Jimmy Rowles, Carl Ruggles, Rebecca Saunders, Martin Smolka und Agata Zubel

Verlag/Label: Wergo WER 67812
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/03 , Seite 85

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 4

Engel, das waren für Marco Blaauw in Kindheitstagen eher unheimliche Dämonen denn liebliche Himmelswesen. So zumindest erinnert der innovative Trompeter seine ersten Kirchenerlebnisse, die diese inzwischen vierte Solo-CD inspiriert haben. Die darauf befindlichen Stücke entspringen wie gewohnt unterschiedlichsten Ideen und Klangvorstellungen, die immer auch ein spezifisches Instrumentarium mit sich bringen. Der Fantasie und den technischen Fähigkeiten des Solisten scheinen dabei keine Grenzen gesetzt …
Liza Lims Wild Winged-One (2007) für Kornett solo mit Gaumenpfeife ist ‹Abfallprodukt› ihrer Oper The Navigator, die die Trompete mit dem «Engel der Geschichte» assoziiert. Dementsprechend gestisch ist dieser Monolog gearbeitet, der hier so lebendig rüberkommt, als bewege sich Blaauw durch die LICHT-Räume Stockhausens. Ähnlich theatralisch konzipiert ist Agata Zubels Wounded Angel (2012), ein Solo für Doppel­trichtertrompete, das praktisch mit sich selbst konzertiert und ein vielzüngiges Mini-Drama aufführt. Ein tatsächliches Doppeltrichter-Duo hat Rebecca Saunders geschrieben: nei­ther (2011) – das vielleicht charismatischste Stück dieser CD – ist ein bearbeiteter Teil ihrer Raum-Collage Chroma und kommt, auf instabilen Spalttönen beruhend, als statisch-zerbrechlicher Klangraum daher, in dem wie erstickte Klangäußerungen aus unwirklichen Fernen ans Ohr dringen – Assoziationen zu Beckett und Feldman sind erlaubt.
Zwar hat Marco Blaauw die Doppeltrichtertrompete auch deshalb erfunden, um seine Reichweite jenseits der zwölf Halbtöne zu forcieren, Martin Smolka hat in pianissimo (2012) seine mikrotonalen Ideen jedoch für vier Trompeten in B mit Bucket-Dämpfern ausformuliert – ein Feldmanesker Schwebezustand in Grauwerten, «Schwermut in inniger Um­armung». Es gibt aber noch mehr bemerkenswerte «Ensemble»-Stücke, die Blaauw mit seinen Bläser-Kollegen von und jenseits der musikFabrik eingespielt hat: Carl Ruggles’ Angels (2011) zum Beispiel, ein wunderbares ‹Sextett› für vier Trompeten, Horn und Posaune, das choralartig um ein verwunschenes A-Dur herummäandert.
In Blaauws eigenem Beitrag wird dann aber doch lieber alles selbst gespielt, im Mehrspurverfahren: zwei Seemuscheln mit Klavierresonanz, Bukkehorn, Doppeltrichtertrompete, Stimme seines Vaters und Umgebungsgeräusche. Die mit Deathangel (2012) unheilschwanger betitelte Col­lage ist Meditation über den Tod und Hommage an den Vater gleichermaßen – der war Bestatter in einem holländischen Küstendorf.
Zur Entspannung dann als Draufgabe Jimmy Rowles’ Balladen-Klassiker The Peacocks (1975) in einer wirklich bezaubernden Version für Doppeltrichtertrompete und präpariertes Klavier – und einer imaginären Snare, die sich mitschwingender Alufolie verdankt …

Dirk Wieschollek