Hiekel, Jörn Peter (Hg.)

Ans Licht gebracht

Zur Interpretation Neuer Musik (= Ver­öffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Band 53)

Verlag/Label: Schott Music, Mainz 2013, 256 Seiten, 34,95 Euro
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/06 , Seite 89

Keiner der Beiträger dieses Buches hat darüber reflektiert, dass es sich bei dem Titel um ein Zitat handelt, nämlich aus dem «Osterspaziergang» aus Goethes Faust 1: «Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht / Sind sie alle ans Licht gebracht.» Immerhin ist Goethe, obwohl kein Fachmann, Autor eines bekannten, gern zitierten Diktums über die Ästhetik des Streichquartetts. Es geht also hier um Interpretation, sowohl durch eine Aufführung als auch durch verbale Deutung, wie Herausgeber Jörn Peter Hiekel in seinem ersten Beitrag ausführt. Dass dies beides zusammenhängt, es sich aber um zwei «extrem unterschiedliche kognitive Operationen» handelt, hat nur Jörg Mainka so bündig formuliert, ohne dass dieser Gegensatz im Buch erschöpfend entfaltet würde.
Ungemein anregend sind aber die Aussagen von Komponisten selbst, hier u. a. Brian Ferneyhough, Rebecca Saunders, Hans Zender (zu Buchstaben und Geist der Musik) und Johannes Schöllhorn (zum Thema «Musik über Musik»). Wichtig und produktiv für die Debatte ist die Feststellung Hiekels, dass die Partitur allein keine «Authentizität» beanspruchen könne, sondern stets einerseits auf Vorhandenes reagiere, andererseits ihre spätere Wirkungsgeschichte mitspiele. Allerdings sollte man die Relativierung nicht so weit treiben wie der von Wolfgang Lessing zitierte Hans-Georg Gadamer (S. 33), dem sich Sinn erst durch die Beobachterperspektive erschließt – hier bewegt er sich in gefährlicher Nähe zum längst überholten Empiriomonismus, dem sich die Welt erst in der Erkenntnis konkretisierte. Nicht nur existiert die Welt unabhängig vom menschlichen Denken, sondern auch im Kunstwerk gibt es Strukturen, die da sind, unabhängig davon, ob jemand sie zur Kenntnis nimmt.
Stefan Drees steuert die wichtige Be­obachtung bei, dass neben der Partitur und der Aufführung das Werk auf Tonträger eine eigenständige Seinsweise darstelle, die strikt zu unterscheiden sei. Nicht folgen möchte man ihm jedoch in der Einbeziehung sichtbarer Momen­te der Aufführung – welche Relevanz sollten die für ein ästhetisches Werturteil haben? Wolfgang Gratzer kann nichts für einen zitierten Partiturausschnitt von Peter Ablinger, in welchem dessen schauriges Englisch nachzulesen ist, er ist aber zu fragen, was er mit der Formulierung «schwerlich undenkbar» eigentlich meint und warum er aus dem Donaueschingen-Redakteur Armin Köhler einen «Achim» macht.
Interpretation, musikalische wie verbale, ist eine Selektion von Bedeutungen, eine Differenzierung, die gerade in der Nähe zum Notentext oft ganz neue Fragen aufwirft, wie mehrere Beiträger richtig bemerken. Ob allerdings die gleichsam digitalisierte Differenz nach dem Ja/Nein-Schema, etwa «schön/hässlich», wie Klaus Lippe meint, für Urteil und Interpretation ausreicht, ob Interpretation nicht weit mehr charakteristische Facetten hat und haben muss, ist eine der vielen produktiven Fragen, die dieses anregende Buch zum Weiterdenken anbietet.

Hartmut Lück