Anthony Braxton

Birth And Rebirth / Four Compositions (Quartet) / Six Compositions (Quartet) / Five Compositions (Quartet) / Six Monk’s Compositions / 4 (Ensemble) Compositions / Eugene / Composition No. 173

Verlag/Label: Black Saint / Soul Note BXS 1012
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/06 , Seite 88

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 5
Booklet: 4
Gesamtwertung: 5

Der Mann kennt sich aus im Jazz und in der neuen Musik, in den unendlich großflächigen Zonen der Improvisation und grafisch dargestellten Kompositionen mit ihren komplizierten Spielanweisungen und kryptischen Zeichen. Sein ganzheitlich geprägtes Musikverständnis stellt bis heute sein kaum überschaubares Werk in den Kontext der freien Improvisation, in die er als multiinstrumentaler Akteur aktuell gültige Meilensteine setzte. Anthony Braxton gelang es dabei stets, sich weder von der einen (dem Jazz) noch von der anderen Seite (der neuen Musik) vereinnahmen zu lassen.
Zwischen 1978 und 1996 entstanden für die italienischen Schallplattenlabel Black Saint und Soul Note Tonaufnahmen, die nun in einer komplett remasterten 8-CD-Box mit dem originalen Coverdesign und in Card­sleeves veröffentlicht wurden. Was für Miles Davis 1957 mit dem Album Birth Of The Cool den Übergang vom Bebop zum Cool Jazz bedeutete, war für Braxton 1978 eine Gratwanderung zwischen Improvisation und Komposition, zwischen Birth And Rebirth: «Die Musik dieses Albums ist das Resultat unseres Glaubens an die Kontinuität, die die Gegenwart mit der Vergangenheit verbindet», schreiben Braxton und sein Duopartner Max Roach im Begleittext. Ihre Improvisationen basieren auf einer afroamerikanischen Kulturauffassung, die sowohl die Herkunft der Ideen und der musikalischen Wurzeln wie ihre Einbindung in eine westliche Kultur- und Gesellschaftsform bestätigt.
Seine Kompositionen grenzte Anthony Braxton durch eine einfache, fortlaufende Nummerierung ab. Schon die zweite in die Box aufgenommene Veröffentlichung, Four Compositions (Quartet) 1983, nutzt Zahlen zur Unterscheidung und Benennung der Wer­ke: Composition – No. 105 A, No. 69 M, No. 69 O, No. 69 Q. Das Quartett mit Braxton, George Lewis, John Lind­berg und Gerry Hemingway drückt seiner multidimensionalen Musikauffassung einen deutlich hörbaren Stempel auf. Überraschenderweise recht moderat in der Ausführung zeigen sich die verschlungenen Kompositionen, die Braxton aus Notizen zu Interpretationen seines Quartetts bei diversen Tourneen, sozusagen aus dem Erinnerungsspeicher, wiederverwendet. Anstelle von George Lewis bedient auf dem Album Six Compositions (Quartet) 1984 die Pianistin Marilyn Crispell die Tasten. Komplizierte Impulseinheiten heben die Musik aus dem Jazz auf die Ebene der neuen Musik, die Braxton hier im Sinne einer swingend-modernen Gegenwartsmusik konzipiert.
Bestandteil der Box ist auch eine LP mit dem Titel Six Monk’s Compositions (1987). Das Material, mit Braxton, Mel Waldron, Buell Neidlinger und Bill Osborne eingespielt, unterscheidet sich durch seine werktreue Umsetzung elementar von Braxtons eigenen Kompositionen: vertraute Melodien, die sich ins Ohr schmeicheln und den Raum vorbereiten, in dem Braxton mit den folgenden drei Produktionen mit großem Orchester – zuletzt mit vier Darstellern, 14 Instrumentalisten und Videoprojektionen – wieder seine Idee einer ganzheitlichen Avantgardemusik verfolgt.

Klaus Hübner