Kyriakides, Yannis

Antichamber

Verlag/Label: Unsounds 21u
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/03 , Seite 81

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 4
Booklet: 4
Gesamtwertung: 5

Wo steht die Kammermusik heute? Dieser Frage geht der griechische Komponist Yannis Kyriakides auf der Anthologie Antichamber nach. Bereits im Titel dieser Zusammenstellung, die insgesamt 15 Kompositionen aus dem Zeitraum von 1995 bis 2007 umfasst, wird deutlich, dass der Begriff Kammermusik eine kritische Durchleuchtung erfährt. Im Stück Antichamber fragt Kyriakides nach dem Wesen der Kammermusik, das sich offenbar stark verändert hat, nicht nur in Bezug auf den Aufführungsort, sondern auch hinsichtlich der Entwicklung unserer räumlichen Wahrnehmung von Musik. Denn heutzutage ist es möglich, mit elaborierten Techniken virtuelle Räume zu erzeugen, akustische Kammern, die in Wirklichkeit nicht existieren. Das Stück Antichamber macht diese Idee sinnfällig. Mit diversen Klangsyntheseverfahren moduliert Kyriakides den Sound eines Streicherquartetts und gibt ihm unterschiedliche räumliche Qualitäten.
Es ist allerdings auch die mangelnde Wandlungsfähigkeit der klassischen Kammermusik, die Kyriakides kritisiert. Für ihn stellt Musik ein Medium dar, das sich dem sozialen Milieu anpassen muss. Sie soll unser emotionales Empfinden reflektieren, ein Abbild heutiger Verhältnisse darstellen. Dafür muss sie auf zeitgenössische Technologien zurückgreifen. Musik ist für Kyriakides nicht eine Wiedergabe von Informationen in einer bestimmten Zeit, sie ist eine Kunst der Zeit. Im Stück as they step into the same rivers verdeutlicht er diesen Zusammenhang durch Verwendung eines iPods, der in vielerlei Hinsicht unser zeitgenössisches Hörverhalten verändert hat. Er nutzt die shuffle-Funktion des Geräts, um im Zufallsverfahren MP3-Dateien abzuspielen. Diese Soundschnipsel treffen auf ein melodisches Schema aus fünf Tönen, das im Verlauf der Komposition regelmäßig wiederholt wird.
Kyriakides interessiert sich da­rüber hinaus für die Philosophie der Antike. As they step into the same rivers verweist auf den Denker Heraklit von Ephesos und seine Aussage: «Wer in dieselben Flüsse hinabsteigt, dem strömt stets anderes Wasser zu.» Kyriakides setzt diesen Gedanken musikalisch um. Seine Musik stellt einen Prozess dar, porträtiert eine Welt im Werden. In hYDAtorizon hinterfragt er diese Denkweise durch Bezug auf den Philosophen Parmenides, für den alles Werden eine Illusion war. Die Musik verharrt im Stillstand. Nur langsam entfalten sich die melodischen Streichermotive, die von sparsamen Pianoklängen grundiert werden.
Bemerkenswert ist, dass Kyriakides’ Musik jederzeit nachvollziehbar ist, seine kompositorischen Ideen sind gut durchdacht. Sie verarbeiten philosophische Fragestellungen, die allerdings kein Substitut für mangelnde musikalische Fähigkeiten sind. Kyriakides versteckt sich nicht hinter einem theoretischen Überbau. Im Vordergrund steht ausschließlich das musikalische Erlebnis, die Erforschung neuer Klangräume, lebendiger akustischer Architekturen – eine Kammermusik für das 21. Jahrhundert.

Raphael Smarzoch