Poppe, Enno

Arbeit / Wespe / Trauben / Schrank / Salz

Verlag/Label: Kairos CD 0013252KAI
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/06 , Seite 85

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

Würde es einen Preis geben für die besten Kompositionstitel, Enno Poppe wäre ein heißer Kandidat auf den ersten Platz. Auch wenn der Komponist und Dirigent anmerkt, seine Überschriften würden eher vage Assoziationsräume öffnen als ‹Inhalte› bekanntgeben, spiegelt Poppes kompakte Titel-Terminologie insofern treffend seine Musik, als sie immer auf etwas Strukturell-Stoffliches verweist und zugleich ein gehöriges Quantum Absurdität in die Waagschale wirft. Diese Doppelung von Sinn und Unsinn ist eine (häufig übersehene) Qualität von Poppes Musik, die stets auf sehr konsequenter Ausformulierung konstruktiver Ideen beruht und gleichzeitig mitbedenkt, dass alles eh nur ein Spiel (= Kunst) ist. Seine besondere Würze erhält das Ganze schließlich dadurch, das zwischen den Zeilen (und manchmal auch ganz offensichtlich) expressive Versatzstücke bekannter Musik die Aufmerksamkeit schärfen; das betrifft teilweise schon die Wahl des Instrumentariums.
Arbeit (2006/07) zum Beispiel ist ein ganz auf den Sound der Hammond-Orgel ausgerichtetes Stück, dessen drei Teile unterschiedlichste Klangcharaktere ausprägen. Darin wimmelt es von «Erinnerungen» an Allgemeinplätze aus Jazz, Rock und TV: Die total zerhackten Melodie- und Akkordprogressionen, wummernden Flächen, geisterhaften Harmonien und verzerrten Soli können so manch historische Scheußlichkeit evozieren wie zum Beispiel Edgar-Wallace-Filme, John Lord oder Emerson, Lake & Palmer. Aber es ist kein Organist, der hier sein Unwesen treibt, es ist «nur» eine synthetische
Si­mulation von Orgelklang per Computersoftware, was halsbrecherische Rhythmus-Kapriolen und diffizile mikrotonale Einfärbungen ermöglicht! Solche Verschiebungen und Irritationen zwischen «echt» (oder auch «richtig») und «falsch» machen den ambivalenten Reiz von Poppes Kompositionen aus.
Im Klaviertrio Trauben (2004/05) verdichten sich Mini-Glissandi (im Ambitus einer großen Terz) und überkommene Gesten der Gattung zu Zuständen vollendeter Chaotik, eine perfekt konstruierte Kammermusik-Wildnis, die wie ein Zerrbild von Klaviertrio anmutet. Chaos durch Ordnung ist auch ein Thema in Salz für Ensemble (2005), dessen Klangentwicklung 125 mal neu ansetzt, um dabei im Rahmen einer groß angelegten Steigerung im­mer lauter, schneller, dramatischer und wirrer zu werden. Am Ende, wenn auch hier die Orgel zum Einsatz kommt, entwickelt das dann endgültig groteske Züge.
Den größten Platz in dieser Klang-Werkstatt beansprucht Schrank: eine Zusammenstellung völlig disparater Instrumentalstücke aus den Jahren 1998 bis 2009 für bis zu neun Spieler. Dieser Schrank ist vollgestopft mit Musikinventar aus zwanzig Jahren Poppe. Er enthält verknäultes Ensemble-Gewusel (I), reine Perkussion (II), splittrige Dialoge von Oboe und Klavier (III), einen Flötenmonolog mit Scheinpolyphonie (IV), asiatisch dünkende Streicherartikulationen (IX, X), lyrisch-melancholische Meditationen von Klarinette und Klavier (V), Caféhausmusik-Parodien (VI) oder gebrochene Walzer-Adaptionen (VIII), als wäre das später Kagel. Nichts ist unmöglich hier, aber alles macht Sinn …

Dirk Wieschollek