Tulve, Helena
Arboles lloran por lluvia
Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5
Sechs Jahre nach ihrem ersten ECM-Porträt Lijnen (vgl. NZfM 6/2008, S. 69f.) steht fest: Die estnische Komponistin Helena Tulve ist sich treu geblieben. Ihren bedachtsamen Tonfall, ihre fragilen Texturen, ihren Sinn fürs Unterschwellige und Unscheinbare, ihr Raum- und Zeitgefühl hat sie bewahrt. Doch ihre Stimme klingt selbstsicherer. Der mentale Horizont ihrer Tonkunst weitete sich ins Mythische und Mystische. Erhalten blieb auch die Poesie ihrer Titel, die sich als Schlüssel zum Werkverständnis erweisen, und der Quellgrund ihrer wesenhaft einstimmigen Musik: archaische Singweisen, Gregorianischer Gesang.
«Der Duft der Myrthen stieg auf und meine Seele war erschrocken», beginnt das Gedicht, das 2005 die Komposition Reyah hadas ala auslöste. Besetzt mit zwei Countertenören, der Vokalgruppe Vox Clamantis und Hortus Musicus aus Tallinn, rankt sie sich um eine vorgegebene Melodie: einen Gesang jemenitischer Juden. Der Text stammt von Shalom Shabazi, einem Dichter, Rabbi und Mystiker des 17. Jahrhunderts. Während die Stimmen linear strömen (wie der Duft der Myrthen), bilden die Renaissance-Instrumente das aufragende Blätterwerk, das sie durchdringen. Allmählich nähern sich die Sphären einander an ein mystischer Nachtgesang, der sein Geheimnis bewahrt.
Vom Dickicht ins Geklärte führt das Tongedicht silences/larmes (Stille / Tränen) für Sopran, Oboe und gestimmte Gläser / Windglockenspiel (2006). Inspirationsquell sind fünf Haikus der Mutter Immaculata Astre, Äbtissin eines Benediktinerklosters in den Pyrenäen. Stimme und Oboe gleichen Liebenden, die einander ersehnen. Der ätherische Klang der Gläser spendet mystische Geborgenheit, während die Sopranstimme in himmlische Höhen entschwebt. Die Musik kommt aus der Stille und versinkt wieder in ihr.
Idee des Vokalstücks LÉquinoxe de lâme (Die Tagundnachtgleiche der Seele) für Sopran, Tripelharfe und Streichquartett (2008) ist die Suche nach Licht. Die Worte entstammen der Erzählung Safir-i Simurgh (Der Ruf des Simurgh) des Sufi-Mystikers Shabab al-Din Suhrawardi (115591). Der feuerfressende Vogel nistet zwischen Ost und West, sichtbarer und unsichtbarer Welt. Frei und leicht gleitet die Gesangstimme über das dichte, vibrierende Linienspiel der Instrumente. Der Funke wird zur Flamme, zur alles verzehrenden, reinigenden Lohe.
Arboles lloran por lluvia (Bäume rufen nach Regen) beginnt ein rätoromanisches Dialektgedicht der Sephardim, das Tulve 2006 ihrer gleichnamigen Komposition für Stimmen und Nyckelharpa unterlegte. Die Sehnsucht nach dem mystischen Geliebten verbindet das Stück mit anderen Werken dieses Albums. Extinction des choses vues heißt denn auch das abschließende Orchesterstück von 2007, das gedanklich auf den jesuitischen Denker Michel de Certeau zurückgeht, dessen Einsicht: Die Vision tilgt die sichtbaren Dinge, bringt «die Welt dahinter» zum Vorschein. Ein Wahrnehmungswandel, den die Musik visionär beschreibt.
Lutz Lesle