Armonica

Werke von Jörg Widmann sowie Mauricio Kagel, Beat Furrer und Peter Ruzicka

Verlag/Label: Pan Classics PC 10290
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/04 , Seite 82

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 4

Heute ist die Glasharmonika weitestgehend in Vergessenheit geraten. Das 1761 von dem Naturwissenschaftler Benjamin Franklin erfundene Instrument erfreute sich bis in die Romantik hinein einer großen Popularität. Es bestand aus ineinander geschobenen chromatisch gestimmten Glaskegeln, die auf einer waagerechten Achse montiert waren. Eine Pedalmechanik ließ die Kegel rotieren, die dann mit befeuchteten Fingern gespielt wurden. Das Resultat dieser Versuchsanordnung, die sogar den Komponisten Wolfgang Amadeus Mozart zu zwei elegischen Stücken inspirierte, war ein sphärischer Klang. Als «ewig heulender, klagender Gräberton» wurde der Sound des Instruments beschrieben, der «die Wehmut über einen entschlafenen Freund» mit gespenstischen Klangfarben in Szene setzte.
Paranormale Qualitäten scheint auch Jörg Widmanns Komposition Armonica für Glasharmonika und Orchester zu besitzen. Die Klänge des Instruments scheinen aus dem Nichts zu kommen, aus einem akustischen Jenseits zu dringen, das wie ein Phantom in die Welt der Lebenden eindringt und wieder verschwindet. Dieses Prinzip wird auf die gesamte Komposition übertragen. An- und abschwellende Klangereignisse dominieren das ca. 15-minütige Stück. Widmann komponiert mit dunklen akustischen Koloraturen. Es ist eine Nachtmusik mit mystischen Untertönen, deren stärkstes Moment gegen Ende zu hören ist. Der Glasharmonikasolist stimmt plötzlich ein Lied ohne Worte an, eine Vokalise, die nur von kurzer Dauer ist, der Komposition allerdings eine magische Aura vermittelt.
Auf dieses Stück folgt ein harter Kontrast, Widmanns Souvenir bavarois aus dem Jahr 2010. Alles Außerweltliche scheint getilgt zu sein. Man glaubt sich auf einem bayrischen Volksfest zu befinden. Das Orchester stampft mit einem lauten Schlagzeugknall los, der wuchtigen Bläserfiguren eine rhythmische Grundlage gibt. Die Musik kann einen gewissen Humor nicht entbehren. Man muss immer wieder schmunzeln, während man der energischen Komposition zuhört, die stellenweise auch eine arabische Färbung aufweist. Was nicht verwunderlich ist – schließlich komponier­te Widmann das Stück in Dubai.
Widmanns Antiphon beginnt mit lauten Bläserfanfaren, die von einem langsam ausklingenden Trommelwirbel unterbrochen werden. Stille. Dann wieder Bläser, die diesmal behutsame Töne anklingen lassen. Die Musik ist spannungsgeladen, voller dynamischer Schwankungen. Plötzliche Eruptionen wechseln sich mit sehr stillen Passagen ab. Auffällig ist die Bewegung einer Melodie, die von unterschiedlichen Instrumentengruppen aufgegriffen und weitergegeben wird, also antiphonisch gestaltet ist.
Ergänzt werden Jörg Widmanns Kompositionen durch Orchesterstücke von Mauricio Kagel, Beat Furrer und Peter Ruzicka, die unter der Leitung von Paavo Järvi zusammen mit dem hr-Sinfonieorchester eingespielt worden sind. Eine gelungene Zusammenarbeit, die nicht nur Widmanns Stücke mit strahlender Musikalität zu interpretieren versteht, sondern auch die Gastbeiträge nicht wie bloße Lückenfüller dastehen lässt.

Raphael Smarzoch