Rihm, Wolfgang

Astralis – Choral Works

Sieben Passions-Texte | Astralis (Über die Linie III) | Fragmenta passionis

Verlag/Label: Harmonia Mundi HMC 902129
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/04 , Seite 78

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

Wolfgang Rihm ist ein Phänomen. Phänomenal ist schon seine extrem hohe Produktivität, die er damit begründet, dass er weder als Intendant noch als Interpret in Erscheinung tritt, sondern sich auf das Schöpferische konzentriert. Gleichwohl nimmt er im Musikleben etliche Funktionen ein. Ästhetische Scheuklappen sind ihm fremd, und obwohl sein Schaffen tiefgreifenden Wandlungsprozessen unterworfen war und ist, bleibt ein Grundzug kennzeichnend: Rihm verlässt sich nicht auf Vorprägungen des «Materials», sondern allein auf rein subjektive Entscheidungen. Seine Werke sieht er als Organismen an, die sich durch Vermittlung des komponierenden Subjekts aus sich selbst heraus entfalten: «vielleicht», so Rihm, «in einer Mischform zwischen Pflanze und Gärtner. Ich bin gleichzeitig die Pflanze und der Gärtner. Also vegetativ einerseits, andererseits auch ordnend, konzentrierend, den Wuchsformen helfend.»
Ebenso zarte wie plastische «Wuchsformen» sind auch seine geistlichen Chorwerke, die ihn von einer ungewohnten Seite zeigen. Und wenn der Leiter des RIAS-Kammerchors Hans-Christoph Rademann von höchster geistiger Erregung einerseits und «körperlicher Erfahrung von betörend fragiler, sinnlicher Musik» andererseits spricht, die Rihms Vokalmusik ihm bescherten, dann ist das auch beim Hören nachvollziehbar – hohe Einlassungsbereitschaft vorausgesetzt.
Die CD enthält Stücke, die einen Zeitraum von fast vierzig Jahren umspannen. Das neueste, Sieben Passions-Texte für sechs Stimmen, entstand von 2001 bis 2006 und entführt – nicht ohne verklärende Züge – in eine Klangwelt, die von der Madrigalkunst der Zeit um 1600 inspiriert ist. Immer wieder ist die «moderne» Chromatik in Carlo Gesualdos Madrigalen hervorgehoben worden, und geht man noch weiter in die Musikgeschichte zurück, so lassen sich in der spätmittelalterlichen Ars subtilior komplexe musikalische Zusammenhänge entdecken und fruchtbar machen. Eingedenk dessen, dass die Vergangenheit ein unerschöpfliches Potenzial für die Gegenwart bietet, versenkte sich der Chor eindringlich und klangschön in Rihms profunde Satzkunst.
Ganz ans Ätherische gemahnt Astralis (Über die Linie III) für kleinen Chor, Violoncello und zwei Pauken von 2001. Begleitet von Rie Miyama und Dirk Wietheger (Ensemble musikFabrik), rührt der Chor hier an Grenzen der Wahrnehmung. Zum einen soll er «so leise und so langsam wie möglich» singen; und zum anderen wird der Untertitel Über die Linie in doppelter Hinsicht greifbar: In ihrer Subtilität lösen sich die (Melodie-)Linien annähernd auf, und mühelos werden Grenzlinien in jenseitige Gefilde überschritten.
Harsche Expressivität strahlen hingegen die Fragmenta passionis, fünf Motetten für gemischten Chor a cappella, aus. Die Bezeichnung «Motetten» mochte 1968 auch provozierend gemeint gewesen sein, sie deutet aber auf Rihms reflexiven Umgang mit der Tradition und seine konsequente Haltung hin, sich nicht von ästhetischen Dogmen und Verbotstafeln beeindrucken zu lassen.

Egbert Hiller