Schultz, Wolfgang-Andreas

Avantgarde, Trauma, Spiritualität

Vorstudien zu einer neuen Musikästhetik, hg. von Tim Steinke

Verlag/Label: Schott Music, Mainz 2014, 130 Seiten
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/03 , Seite 92

Zwölf Texte – zwölf Bruchstücke einer großen Konfession, deren Name für die musikphilosophische Plattform des kompositorischen Œuvres von Wolfgang-Andreas Schultz steht: evolutionäre Musikästhetik. Sie hat einen dreifachen Treibsatz, auf den der Titel der vorliegenden Sammlung von Aufsätzen verweist: Kritik der Avantgarde, schöpferische Rezeption der Traumaforschung und Vision einer spirituellen Musik, die etwa in der Tanzdichtung Shiva für Flöte und Orchester (1990/91) klingende Gestalt angenommen hat.
Evolutionäre Musikästhetik markiert einen Neubeginn, der nicht denkbar ist ohne den «Abschied vom linearen Erzählen», und nicht zufällig ist der gleichnamige Aufsatz als siebenter genau im Zentrum des Bandes platziert. Er ist ein eindringliches Plädoyer für eine neue Lesart der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts, in dem das Alte nicht dem Neuen spurlos gewichen ist, sondern es ergänzt und sich ihm in einem evolutionären Prozess anverwandelt hat: Kumulation statt Kulmination. Mit dieser Option geht die Absage an den Fortschrittsbegriff der Avantgarde einher, der sich an sprunghaft ändernden Paradigmen orientierte: statt Revolution jetzt Evolution, das heißt Entfaltung der Innovation aus der Tradition.
Unter der Fragestellung «War das der Fortschritt?» eröffnet der erste Aufsatz einen kritischen Rückblick auf die Musik des 20. Jahrhunderts, der das Kriegstrauma nach 1918 und die unbewältigte traumatische Erfahrung des Zweiten Weltkriegs eingeschrieben sind – nach Schultz festzumachen am Materialbegriff und an kompositorischen Techniken von gro­ßer Emotionslosigkeit, Distanz und Kälte. Dass man darin eine Pervertierung der Todessehnsucht des 19. Jahrhunderts sehen darf, erhellt der dritte Text, der u. a. eine subtile Neu­interpretation von Schuberts Leiermann enthält.
Zwei Texte können als Hommage an den verehrten Lehrer György Ligeti gelesen werden, dessen ambi­valentes Verhältnis zur Postmoderne thematisiert und dessen Lux aeterna zusammen mit Morton Feldmans Coptic Light als Klangkomposition zwischen Naturlaut und Vision vorgestellt wird.
Das Verhältnis von Musik und Spiritualität schließlich wird im Kontext eines «nicht-reduktionistischen Menschenbildes» bestimmt, «eines Menschenbildes, das Geistiges, Seelisches und Religiöses nicht auf die materielle Ebene reduziert, sondern Entwicklungsmöglichkeiten über Ich-Bewusstsein und Rationalität hinaus sieht und Ideen für menschliches Wachstum und seelisches Reifen enthält». Für die Erfahrung, dass den Werken eine spirituelle Dimension oft implizit ist, ruft Schultz George Steiner als Zeugen auf: Die Kriterien von Qualität verweisen nach Steiner immer auch auf eine transzendente Dimension. Andere wichtige Gewährsmänner sind ihm der spirituelle Lehrer Sri Aurobindo und Ken Welber, einer der Protagonisten Integralen Denkens.
Vom Autor selbst als Prolegomena zu einer neuen Musikästhetik und als Momentaufnahme seines musikphilosophischen Denkens avisiert, erheben die vorliegenden Texte nicht den Anspruch, ein «durchgeschriebenes Buch» zu sein. Sie sind weniger und mehr zugleich.

Peter Becker