Pärt, Arvo
Babel – “und meine Töne in meinem Mund”
Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Booklet: 3
"Glöckchenspiel und heiliges Staunen" so ließe sich der Klangkosmos des Esten Arvo Pärt umschreiben, der seit Jahrzehnten Menschen jeden Alters, die sich nach spiritueller Geborgenheit sehnen, in den Bann schlägt. "Engelsmusik klingt schön, aber davon sind wir weit entfernt. Meine Musik ist die Vorbereitung auf einen langen Weg. Man braucht nur den richtigen Zugang zu den Quellen, wo schon alles gesagt ist." Das ist die Botschaft, die Pärt aus Berlin und Tallinn in die Welt sandte.
Auf der Tradition des orthodoxen (byzantinischen) Kirchengesangs, der frühen Mehrstimmigkeit, der frankoflämischen, römischen und venezianischen Schule fußend, ist Pärts Musik wesenhaft vokal. Sie bewegt sich prozessionsartig, indem sie das Zentralgestirn des Dreiklangs umkreist oder umläutet.
Mit seinen kindlich-reinen Stimmen sind die Wiltener Sängerknaben aus Innsbruck einer der traditionsreichsten und renommiertesten Knabenchöre Europas, dessen Geschichte bis ins 13. Jahrhundert zurückreicht nachgerade das Medium seiner frommen Muse. Der Chor zählt heute ca. 180 Mitglieder. Die jüngsten sind vier oder fünf Jahre alt. Der häufige, stimmbruch- bedingte Wechsel der Stimmen bringt eine laufendeVeränderung und Erweiterung des Repertoires mit sich. Schwerpunkt der Chorarbeit, die der Organist, Sänger, Dirigent, Komponist und Gesangspädagoge Johannes Stecher seit 1991 mit Hingabe leistet, ist die geistliche Chorliteratur von der Renaissance bis ins 20. Jahrhundert.
Die hier eingespielte Blütenlese aus Pärts geistlichem Chorschaffen, die in der Johanneskirche Ampass und der Pfarrkirche Telfs am Inn aufgenommen wurde, umspannt drei Jahrzehnte. Die titelgebende Psalmmotette An denWassern zu Babel saßen
wir und weinten (Psalm 137, mit Orgel) entstand 1984, zwei Jahre nach Pärts Übersiedlung in die geteilte Stadt Berlin, wo er den "kleinen, einfachen Regeln" seines (vom ihm so genannten) Tintinnabuli-Stils nachhing. Dieser Glöckchenstil weist zurück auf die altrussische Glockenmusik, welche auf den russisch-orthodoxen Kirchengesang einwirkte: Denkmal einer frühen osteuropäischen Mehrstimmigkeit um die (erste) Jahrtausendwende nicht wie im Westen linearhorizontaler, sondern harmonischvertikaler Natur.
Leider erfährt man aus dem Beiheft weder Handwerkliches noch Kulturgeschichtliches zu Pärts Schaffen. Statt dessen liest man poetische Aufzeichnungen, die der Wiener Literatin Teresa Präauer in den Sinn kamen, als sie den Aufnahmen mit den Wittener Sängerknaben lauschte ("Meine Töne in meinem Mund"). Um das Kindsein kreisend, rühren sie freilich auf ihre Weise an das Wesen der Musik, das sich hier in engelhafter Schönheit offenbart.
Von dem erwähnten Psalm, den die Israeliten im babylonischen Exil beteten, rankt sich das Programm über das Magnificat (1989), die Beatitudines ("Seligpreisungen" aus der Bergpredigt, 2011) bis zu dem kindlich-schlichten, klavierbegleiteten Vater unser (2005/2011). Dazwischen erklingen u. a. die Antiphon Da pacem Domine (2004/2006), The Deers Cry (2007) aus Lorica of St. Patrick, dem sogenannten Irischen Segen keltischen Ursprungs, und der Littlemore Tractus (2000) aus Wisdom and Innocence von John Henry Newman.
Lutz Lesle