Baku: Symphony of Sirens

Sound Experiments in the Russian Avant Garde

Verlag/Label: Recommended Records ReR RAG 182
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2009/05 , Seite 91

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 5
Booklet: 5
Gesamtwertung: 5

 

Insbesondere im Gefolge der russischen Revolution von 1917, aber auch schon vorher, am Beginn der industriellen Revolution, formierten sich in der Musik neuartige Ideen und Experimente. Parallel zur europäischen Avantgarde entwickelte sich in Russland ab etwa 1908 eine auf eigenen Füßen stehende Musikbewegung, die von Agitationsmusik bis zur Produktionsmusik weite Felder beackerte. Schon mit 19 Jahren formulierte Wladimir Majakowski etwa als Anführer der russischen Gruppe «Cubo-Futuristen» ein Manifest entsprechend dem der italienischen Futuristen um Fillipo Tommaso Marinetti.
Die vorliegenden Soundexperimente in der russischen Avantgarde konzentrieren sich auf den Zeitraum von 1908 bis 1942 und stellen Ori­gi­al­dokumente und Rekonstruktionen von 72 Schlüsselwerken aus Musik, Poesie und Agitprop vor.
Nicht nur in Moskau und Petrograd, sondern auch in der aserbaid­schanischen Stadt Baku – und dort über die gesamte Fläche – entstand eine Klangkulisse, die nicht mehr viel Gemeinsames mit den Werken eines Peter Tschaikowsky oder eines Nikolai Rimski-Korsakow zu bieten hatte. Manchmal waren tausende Menschen beteiligt, die mit Gewehrsalven und rhythmisch angetriebenen Maschinen den Soundteppich webten. Produk­tionskonzerte konzentrierten sich auf Industriemaschinenklänge wie Dampf­­hämmer oder mechanische Webstühle, die trotz der lauten, hektischen und ungefilterten Fabrik-Atmosphäre versuchten, eine Ästhetisierung dieser Ge­räusche für die Massen herzustellen.
Ein Hauptakteur war Arseny Avraamov, der 1922 mit der Symphony of Sirens ein Schlüsselwerk des Genres herausbrachte. Der fragwürdige Einsatz von Maschinengewehr-Geräuschen diente dem Urheber als Quelle für Signaltöne. Im ukrainischen Industriekomplex «Dombass» (Donezbecken) fand Dziga Vertov das Material zu Enthusiasm! The Dombass Symphony, einem Werk wie ein Film ohne Worte, eine Oper ohne Instrumente, kurzum, ein originaltönendes Hör(bei)spiel aus der spätrevolutio­nären Industrie- und Arbeitergesellschaft. Dazu zählt auch das Werk von Alexander Mossolov, der im Ballett Steel die Maschinen als Symbol für die Kraft und Wirklichkeit der sowjetischen Industrialisierung glorifizierte.
Eines der wichtigsten Agitprop-Werkzeuge war die Sprache. Auch hier zeigen sich Parallelen zum italienischen Futurismus, wo die Sprachkünstler Marinetti und Pratella den Ton angaben. In der russischen Avantgarde übernahmen Kasimir Malewitsch, David Burljuk, Welimir Chleb­nikow und Ossip Mandelstam diesen Part. Zwei weitere Originalstimmen zählen zu den Highlights der Edition: Wladimir Iljitsch Uljanow, genannnt Lenin, spricht in einer Rede von 1919 über den Sieg des sowjetischen Sozialismus. Und Leo Trotzki redet um 1938 dreieinhalb Minuten lang zum zehnjährigen Jubiläum der (seiner) Linken Opposition.
Dem britischen Avantgardelabel «Recommended Records» ist mit der von Chris Cutler herausgegebenen Zwei-CD-Edition Baku: Symphony of Sirens, die in einem ausführlichen Booklet von Miguel Molina Alarcón eingebunden ist, ein echtes Zeitzeugnis gelungen.

Klaus Hübner