Benjamin Britten: Peace and Conflict

Filmdokumentation von Tony Britten

Verlag/Label: Edition Salzgeber D295 | 104 min.
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/04 , Seite 80

Das Britten-Jahr ist vorbei, über den Komponisten ist aber nicht alles gesagt worden. Die Würdigungen zu seinem hundertsten Geburtstag befassten sich in erster Linie mit seiner künstlerischen Biografie, wobei seine Homosexualität mehr oder weniger stark betont wurde und der Hinweis nicht ausblieb, er sei eben ein Eklektiker und kein Avantgardist gewesen. Sein Pazifismus, ein entscheidender Motor seines Schaffens, wur­de allenfalls rechtfertigend ins Feld geführt.
Die bisher kaum bekannten Ursprünge von Brittens politischen Überzeugungen bringt ein Film ans Tageslicht, der die Form eines Dokudramas hat, also dokumentenbasierte Sachinformation mit Spielfilmelementen mischt und damit eine
breitere Öffentlichkeit anspricht. Buch und Regie stammen vom englischen Komponisten, Dirigenten und Regisseur Tony Britten (nicht verwandt mit Benjamin Britten), der auch die äußerst ergiebigen Recherchen betrieben hat. Die Wurzel von Benjamin Brittens Pazifismus hat er in der Jugendzeit des Komponisten gefunden, genauer: in der Gresham School, einer Internatsschule in Norfolk im Nordosten Englands, wo Britten mehrere Jahre verbrachte. Im bürgerlich-liberalen Klima dieser Einrichtung entwickelte sich in der Zwischenkriegszeit unter den Schülern eine Diskussionskultur, die alle Lebensbereiche kritisch durchleuchtete und auch vor der Politik nicht Halt machte, zumal der Schatten des Ersten Weltkriegs schwer auf der Schule lag: Ein Fünftel der ehemaligen Schulabgänger, die Kriegsdienst geleistet hatten, fanden damals den Tod.
Der Film kann sich auf aussagekräftige und zum Teil seltene Dokumente stützen, und auch die der Internatszeit gewidmeten Spielfilmszenen sind hervorragend gelungen. Das ist nicht zuletzt dem jungen Alex Lawther zu verdanken, der die inneren Konflikte des pubertierenden Internatsschülers Britten auf ebenso sensible wie konzentrierte Weise zur Darstellung bringt. Die lebendigen Einstellungen zeigen den Kontrast zwischen den strengen gesellschaftlichen Regeln, die bei aller Liberalität das Leben an der Schule bestimmten, und den aufmüpfigen Ideen der Schüler, die zwischen klassischer Bildung und vormilitärischen Übungen ihre Freiräume für ein neues Weltverständnis suchten. Zahlreiche Klassenkameraden, mit denen Britten Tennis spielte und in schulinternen Diskussionsklubs hitzige Debatten führte, bekleideten später wichtige Stellen im politischen Leben. Geheimdienstmitarbeiter, Wirtschaftsführer, kommunistische Spione und hohe Regierungsbeamte befanden sich darunter. Ihren Biografien begegnet der Film mit der gleichen Sorgfalt wie den Einflüssen, die dieses Milieu auf den jungen Britten ausübte und die sein gesamtes Werk nachhaltig prägten. Sie waren der Auslöser für Brittens spätere Entscheidung, sich jeder politischen Parteinahme zu enthalten, den Kriegsdienst aus Gewissensgründen zu verweigern und eine konsequent pazifistische Haltung einzunehmen. Was auch ein starkes politisches Statement darstellt.
Spätere künstlerische Weggefährten Brittens wie Peter Pears und Wystan Hugh Auden, der einige Jahre vor Britten ebenfalls Schüler in Gresham war, kommen in den Archivdokumenten ebenso zu Wort wie Zeitzeugen. Einen besonderen Akzent setzen die Bilder vom Zweiten Weltkrieg: die Zerstörung von Coventry, zu deren Erinnerung Britten sein «War Requiem» schrieb – es wurde 1962 unter Mitwirkung von Peter Pears und Dietrich Fischer-Dieskau als Oratorium gegen den Krieg und für die Versöhnung in Coventry uraufgeführt –, die endlosen Kreuzreihen auf den Soldatenfriedhöfen der Normandie und vor allem die Dokumente, die an den Besuch Brittens im befreiten KZ Bergen-Belsen erinnern, wo er als Pianist zusammen mit Yehudi Menuhin ein Konzert für die Häftlinge gab. Diese Bildsequenzen machen den Film selbst zu einem engagierten Antikriegsdokument.

Max Nyffeler