Berlin im Licht

Klaviermusik der November­gruppe (Heinz Tiessen, Wladimir Vogel, Hanns Eisler, Hans Heinz Stuckenschmidt, Philipp Jarnach, Felix Petyrek und Stefan Wolpe

Verlag/Label: Berlin Classics 0300196BC
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/06 , Seite 83

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 5
Booklet: 4
Gesamtwertung: 4

«Berlin im Licht» war das Motto einer Aktion, die im Jahr 1928 die deutsche Hauptstadt mit Beleuchtungs-Installationen als «neue Lichtstadt Europas» inszenierte. Die vorliegende CD entlehnt sich diese von Aufbruchsstimmung und Fortschrittsdenken zeugende Devise, um den Fokus auf die Berliner Aktivitäten der so genannten «Novembergruppe» in den 1920er Jahren zu lenken. Diese zunächst lediglich bildende Künstler und Architekten umfassende Vereinigung, welche sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs als künstlerische und zugleich gesellschaftliche Avantgarde verstand, wurde 1922 auch auf den Bereich der Literatur und der Musik ausgedehnt. Gegründet von Max Butting und Heinz Tiessen, trat die Musiksektion der «November­gruppe» bis 1927 mit 19 Konzertabenden an die Öffentlichkeit, deren Ziel es war, neue «Werke zur Diskussion zu stellen, die anderweitig kaum Aussicht auf Aufführung hatten».
Eine in den künstlerischen Zielen einheitliche Bewegung war die «Novembergruppe» nie, wie bereits der Titel ihrer bald wieder eingestellten Zeitschrift Kunsttopf signalisierte. Auch in der Musiksektion trafen sich Musiker verschiedenster Provenienz. Aus dem Umfeld Busonis und seiner «jungen Klassizität» stießen Philipp Jarnach, Wladimir Vogel und Kurt Weill hinzu; die Schule Schönbergs war durch Hanns Eisler, diejenige Franz Schrekers durch Felix Petyrek und den später als Dirigent reüssierenden Jascha Horenstein vertreten; weiter schlossen sich Stefan Wolpe und Hans Heinz Stuckenschmidt an, der später das Komponieren aufgab und als Musikschriftsteller prominent wurde. Sein auf der vorliegenden CD eingespieltes Klavierstück mag repräsentativ für die damalige Phase künstlerischen Tastens und Suchens stehen. In ihm wechseln aggressive Gesten unvermittelt mit ge­rade­zu impressionistischen Farbtupfern, spätromantisch mürbe Harmonien mit leeren Quintklängen oder atonalen Strecken, und zwischen geradezu träumerischen Momenten und motorischen Bewegungszügen taucht auch schon einmal ein depravierter Walzer auf. Wie um von der stilistischen Unentschiedenheit abzulenken, griff Stuckenschmidt zu greller Titelwahl und nannte sein Stück, halb dem Expressionismus verhaftet, halb modisch-salopp Der Champagner-Cobler und die grüne Sonne.
Jene Vielfalt, die Stuckenschmidts Stück in sich birgt, kennzeichnet das gesamte Repertoire dieser durch den Pianisten Matthew Rubinstein eingespielten CD. Da stehen die lapidaren Kurzformen von Eislers Acht Klavierstücken op. 8 neben dem Versuch Felix Petyreks, in seinem Choral, Variationen und Sonatine eine größere Architektur aufzubauen. Und während Wladimir Vogel, in der Klangsprache bei Skrjabin anknüpfend, ein Espressionistico komponiert, das «klotzig» ertönen soll, lässt Heinz Tiessen inmitten seiner Drei Klavierstücke op. 31 den Gesang der Amsel ertönen. Geradezu historisierend nehmen sich die Satz­titel «Sarabande» und «Burlesca» in Philipp Jarnachs noch spätromantisch gefärbtem op. 17 aus; betont antiromantisch wiederum gibt sich Stefan Wolpes Stehende Musik, die wie eine reine Rhythmus- und Bewegungsstudie über laufende und stotternde Motoren wirkt.   

Gerhard Dietel