Beyond

J. S. Bach: Partita BWV 1004 | Giacinto Scelsi: L’âme ailée; L’âme ouverte / Xnoybis I-III

Verlag/Label: Coviello Classics/Deutschlandradio, Cov61302
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/03 , Seite 86

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

Beyond, der Titel der neuen CD der Geigerin Barbara Lüneburg, bedeutet «jenseits» oder «darüber hinaus» – und er verweist unmittelbar auf existenzielle Fragen, die mit der Musik von Johann Sebastian Bach und Giacinto Scelsi verknüpft sind. Auf den ersten Blick haben beide Komponisten – stilistisch und zeitgeschichtlich – nicht allzu viel gemeinsam. Doch trotz eines Abstands von fast 250 Jahren offenbaren sich bei genauerer Betrachtung sehr wohl Verbindungslinien. Beide haben intensiv mit ihren Interpreten zusammengearbeitet und auf jeweils eigene Weise spieltechnische und ausdrucksspezifische Grenzen überschritten. Und über die tiefe Versenkung in das Klangpotenzial der Violine hinaus lassen sich die spirituellen Dimensionen ihrer Mu­sik als weitere Gemeinsamkeit hervorheben.
Bachs berühmte, 1720 entstandene Partita d-Moll BWV 1004 kombinierte Lüneburg mit mehreren Solowerken Scelsis – wobei sie auf modische Verschränkungen verzichtete. Zunächst erklingt die Partita, und Lüneburg entlockt ihr, ohne sich «romantisierend» anzubiedern, einen schier unglaublichen Reichtum an Farben, Harmonien und Emotionen. Perfekt hält sie, nicht nur in der berühmten Chaconne, die Balance zwischen objektivierender Dis­tanz und subjektiver Eindringlichkeit, so dass die Partita gleichermaßen zum faszinierenden musikalischen Kosmos und – für den diesbezüglich einlassungsbereiten Rezipienten – zur Wanderung durch Höhen und Tiefen der menschlichen Seele gerät. Von mannigfaltigen Erfahrungen mit Repertoire aus der «Barockzeit» zehrend, wählte Lüneburg im Hinblick auf die Berücksichtigung der historischen Aufführungspraxis eine vermittelnde Herangehensweise, indem sie solcherart gewonnene Erkenntnisse befolgte, die Partita aber auf einem modernen Instrument einspielte.
Dass sie indes auch und gerade eine Spezialistin für zeitgenössische Musik ist, zeigt sich dann eindrucksvoll bei Scelsi, dem sie mit der gleichen Konzentration und Hingabe begegnet. Weder ließ sie sich von mikrotonalen Schattierungen noch von meditativer Entrückung in die Sphäre des Einzeltons schrecken – so in den Stücken L’âme ailée und L’âme ouverte (1973), die die Seele im Titel tragen. Mit L’âme ailée ist Platons «geflügelte Seele» gemeint, die laut dem Mythos immer schon da war und niemals aufhört zu existieren. Auf ihrem Flug zu den Rändern des Himmels bestaunt sie das, was «jenseits» davon liegt.
Xynobis I-III (1964) benannte Scelsi hingegen nach dem ägyptischen Schöpfergott, der in sich die sinnlich-animalische Fruchtbarkeit der Erde mit der – auch geistig – erhellenden Leuchtkraft der Sonne vereint. Seine bizarre Erscheinung mit Schlangenleib und Löwenkopf reflektierte der italienische Komponist mit höchst ungewöhnlichen Klängen, die Barbara Lüneburg sensibel auslotet. Das Timbre der Geige ist durch Skordatur stark verändert, und das für Scelsi prägende Obertonschillern und Mitschwingen feiner sirrender Geräusche erzeugt sie, indem sie eine Haarnadel oder eine Gitarrenstahlsaite zwischen die Saiten ihrer Violine klemmt.

Egbert Hiller