Rothenberg, David
Bug Music
Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 5
Booklet: 5
«Die Grille hatte den ganzen Sommer gesungen», so beginnt die moralisierende Fabel von Jean de la Fontaine, der diesem nutzlosem Treiben die arbeitsame Ameise gegenüberstellt. Als Musik wurde das Zirpen der Grillen bereits in vergangenen Epochen wahrgenommen. Der Gesang der Zikaden in einer Sommernacht bietet bis heute, sofern nicht vom Verkehrslärm übertönt, die beste Gelegenheit einer räumlichen Wahrnehmung durch das Gehör: Es sind Geräusche, die süchtig machen können und einem wie der Anblick des Sternenhimmels ein Gefühl der Einheit mit der unermesslichen Natur geben.
David Rothenberg, der sich auf ähnliche Weise bereits mit den Gesängen der Vögel und der Wale auseinandergesetzt hat, ist mit seinem Sohn Umru in die Wälder von Virginia gezogen, als sich die Zikaden dort wie nur alle 17 Jahre vernehmen ließen: er mit der Klarinette, der Sohn mit dem iPad. Ein andermal begleitete ihn der Obertonsänger Timothy Hill, ein drittes Mal zieht er allein aus und stimuliert die Zikaden mit einem lauten «Schhhhhh».
Der Philosophieprofessor und Jazzmusiker verheimlicht nicht seine Fachkenntnisse der Entomologie, über die er ein dazugehöriges Buch veröffentlicht hat. Aber auf der CD geht es um die musikalischen Möglichkeiten, die sich aus der Interaktion mit dem Klang der Insekten ergeben. Er verwendet Aufnahmen als Samples, bringt mit Hilfe des befreundeten Forschers Charles Lindsay die Zikaden dazu, sich auf dem Mikrofon niederzulassen, konfrontiert die unterschiedlichen Zirp- und Schrapgeräusche mit elektronisch erzeugten Doubles und seiner Bassklarinette. In mehreren Tracks rhythmisiert er die Klänge der Grillen, Zikaden und Grashüpfer, unterlegt sie mit den rockigen Rhythmen des E-Gitarristen Robert Jürjendal oder im letzten Titel mit einem vorwärtstreibenden, komplexen elektronischen Beat.
Die von den Insekten erzeugten Geräusche sind dabei mal Impulsgeber, mal Gegenstand der Aufmerksamkeit des Hörens, mal auch einfach perkussiver Hintergrund für Rothenbergs Klarinettenläufe. Dem Klang der Maracas vergleichbar, bleibt doch jederzeit eine andere Dimension, jenseits der menschlichen Sphäre. Es ist nicht so sehr eine wirkliche Interaktion zwischen Mensch und Insekt in dem Sinne, dass die Zikaden auf die Klarinette antworten und umgekehrt. Eher ist es Rothenberg, der nach Berührungspunkten sucht: Die schnarrenden Klänge der Bassklarinette oder des Obertongesangs resonieren von fern mit den Vibrationen der Schwertschrecke, des gefleckten Langhornbocks oder der Maulwurfsgrille. Die Rhythmen, welche die Buckelgrille beim Trommeln auf Zweige erzeugt, bieten ein Klanggerüst, wie es sich sonst allenfalls mit elektronischen Mitteln herstellen ließe.
Wiewohl sich die Herangehensweise von Stück zu Stück ändert, bleibt doch immer ein faszinierender, klanglich reicher und differenzierter Hintergrund hörbar, der die Gedanken ein Stück weit hinausträgt in die Weite der Sommernacht.
Dietrich Heißenbüttel