Cage, John / von Osten, Sigune / Wei, Wu

cageAnimations

Verlag/Label: Wergo ARTS 8110 2
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2006/01 , Seite 76

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 3
Booklet: 2
Gesamtwertung: 4

 

Cage redivivus: die Sopranistin Sigune von Osten, Interpretin und Mitschöpferin zeitgenössischer Vokalmusik seit Jahrzehnten, verhilft et­lichen grafischen Notationen und Textpartituren von John Cage, da­runter den vieldeutigen Solopartien der Songbooks, zu ungeahnt neuem Leben – nicht zuletzt dank des chinesischen Musikers Wu Wei, der mit ostasiatischem Instrumentarium und selbstvergessener Hingabe der spirituellen Auferstehung des Amerikaners Vorschub leistet. Da sich dieser komponierend des I Ging bediente, lag die Zusammenarbeit mit einem Tonkünstler aus dem Reich der Mitte für die Sängerin gleichsam auf dem Erkenntnisweg zur geistigen Welt des John Cage.
Vor allem in der konzentrierten Kürze ihrer Auslegungen liegt der Sinnenreiz der Cage-Animationen, die sich jedweder Geschwätzigkeit enthalten. «Meditative Ruhe und Stille, wie sie in den streng notierten Stücken aus Songbooks, Experiences II, One9, Sonnekus2 gegeben sind», hätten, so Sigune von Osten im Booklet, Auswahl, Arrangement und Zusammenstellung dieser CD ebenso bestimmt wie jener «andere Cage», der sich in Nebeneinander und Gleichzeitigkeit verschiedener Stile und Klänge offenbarte: in der Aria, den Mesostics (Mesostichon = Figur ähnlich dem Akrostichon, bei der die hervorgehobenen, zusammenzulesen­den Buchstaben in der Versmitte stehen) wie in der für Sonnekus2 geforderten «Mischung aus Kirche und Kabarett».
Ausgehend von der Komposi­tion One9 für die chinesische Mund­orgel Sheng, der die Sängerin hier Zwölf Aphorismen zuspricht, kam Sigune von Osten der glückliche Gedanke, verschiedentlich altchinesische Instrumente hinzuzuziehen, die den Stücken eine metaphysische Dimension hinzugewinnen: neben der Mundorgel Sheng (gefügt aus 17 Bambusröhren mit Durchschlagzungen) die zweisaitige Spießhalslaute Erhu und die Okarina Xun (eine Gefäßflöte aus Ton oder Porzellan).
Angeregt durch die Songbooks suchten Sängerin und Musiker Zusammenklänge unterschiedlichster Art und Herkunft: Sprache, Instrumente, Geräusche von Gegenständen und Naturlaute. Beide Künstler ließen sich von Cage sogar zu drei eigenen, gemeinsam verantworteten Klangexperimenten inspirieren, denen sie entsprechend lautmalerische Titel verpassten: Whsprs (whispers?), Lo Ing (chinesisches Sprachbild?) und Raconte (Erzählung? Müsste eigentlich conte heißen).
Witzig auch die Idee, Sonnekus2 hörspielartig mit dem Café-concert-Song Je te veux von Erik Satie zu vermengen. Ein Kabinettstück sängerischer Spiegelfechterei und Narretei liefert Sigune von Osten mit der verhexten Aria, die sie – entfernt an Berios Sequenza III mit Cathy Berberian erinnernd – zum femininen Ego-Trip aufmischt, hin- und hergerissen zwischen Wahn und Wonne.

Lutz Lesle