Cantate e tranquillo

Werke von Ludwig van Beethoven, György Ligeti, J. S. Bach, György Kurtág, Alfred Schnittke und Alexander Knaifel

Verlag/Label: ECM 2324
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/04 , Seite 78

Musikalische Wertung: 4

Technische Wertung: 4

Booklet: 5

 
Die Vorliebe von ECM-Chef Manfred Eicher für die musikalische Kontemplation ist kein Geheimnis und war für das «New Series»-Segment seines Labels geradezu stilbildend. Für Cantate e tranquillo hat er mit András Keller, Primarius des «hauseigenen» Keller-Quartetts, ein Programm zusammengestellt, das ausschließlich auf «slow movements» basiert, wohlwissend, dass die viel beschworene Unsagbarkeit und Rätselhaftigkeit musikalischer Kunst sich selten irgendwo so konzentriert und subjektiv mitteilt wie im langsamen Streichquartett-Satz. Das Feld dazu ist zwischen Mozart und Rihm praktisch unerschöpflich reich bestellt!
Die «Kuratoren» entschieden sich für eine Zusammenstellung älterer und neuerer Keller-Aufnahmen, die Auszüge aus Bachs Kunst der Fuge und Teile aus Beethovens späten Quartetten mit Musik von György Ligeti, Alfred Schnittke, Alexander Knaifel und insbesondere György Kurtág konfrontieren, also visionäre Spätwerke älterer Musik mit zeitgenössischer in einen Dialog bringen. Gerade aber beim ungarischen Keller-Quartett hätte man sich bei diesem Lob der Langsamkeit allerdings noch einen ganz Großen der Streichquartettkunst gewünscht: Béla Bartók …
Dennoch trifft hier handverlesen außergewöhnliche und naturgemäß außergewöhnlich «schöne» Musik aufeinander, deren Wirkung sich in intensiven Darbietungen gleichsam gegenseitig multipliziert. Dennoch ist die Überzeugungskraft der einzelnen Bestandteile unterschiedlich und, so muss man sagen, grundsätzlich bei der neuen Musik höher als bei der alten. Das Keller-Quartett ist bekannt für seine getragenen, aber auch manchmal etwas pastosen Zugangsweisen, was den Auszügen aus Bachs Kunst der Fuge nicht immer gut tut; da gibt es nicht nur weitaus transparentere, auch spirituell einnehmendere Deutungen in der Streichquartett-Einrichtung (etwa die vom Emerson Quartet). Ähnliches gilt für die Auszüge aus Beethovens späten Quartetten, dem «Lento assai» aus op. 135 und der «Cavatina» aus op. 130. Es ist gar nicht mal ein problematisches Tempo (da gibt es viel größere Extreme), aber so manche melodische Kontur und agogische Feinheit im Adagio-Fluss versandet hier in träger Andacht. 
Ganz wunderbar gelungen hingegen sind die expressiven Miniaturen von Kurtág (Aus der Ferne V, Officium breve in memoriam Andrae Szervánsky, Flowers We Are – for Miyako, Hommage à Bach, Ligatura, Ligatura Y), die ihre konzentrierte Klangpoesie mit ganzer Unmittelbarkeit entfalten. Und das nostalgisch eingetrübte «Moderato pastorale» aus Schnittkes Klavierquintett (1972/76) sowie der «Autumn Evening» aus Knaifels Streichquartett In Air Clear and Unseen (1994) mit seinem verhangenen Choral-Mimikry in Super-Zeitlupe sind in ihrer konsequenten Melancholie sowieso zwei Paradestücke für das Keller-Quartett! Cantate e tranquillo in denkbar elegischster Form …
Dirk Wieschollek