Gubaidulina, Sofia
Canticle of the Sun
The Lyre of Orpheus / The Canticle of the Sun
Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Booklet: 5
Zwei berühmte Virtuosen auf Streichinstrumenten haben jene beiden Kompositionen Sofia Gubaidulinas inspiriert, welche auf der vorliegenden CD dokumentiert sind. Einer der beiden, der Geiger Gidon Kremer, ergriff die Gelegenheit, die ihm gewidmete, 2006 entstandene Leier des Orpheus für Violine, Schlagzeug und Streichorchester selbst zu interpretieren: zusammen mit der von ihm gegründeten «Kremerata Baltica» beim Lockenhaus Festival 2006. Im Fall von The Canticle of the Sun, 1997/98 geschaffen, ist der Widmungsträger, der Cellist Mstislaw Rostropowitsch, bereits verstorben. Seinen Part in diesem Werk für Cello, Kammerchor, Schlagzeug und Celesta übernahm bei einer im Jahre 2010 ebenfalls während des Lockenhaus Festivals entstandenen Tonaufnahme Nicolas Altstaedt, ein Vertreter der jüngeren Cellisten-Generation, welcher sich intensiv mit zeitgenössischer Musik beschäftigt und unter anderem Werke von Moritz Eggert und Frangis Ali-Sade uraufgeführt hat.
Die Leier des Orpheus ist Teil eines Triptychons, in welchem Sofia Gubaidulina die Struktur ihrer Musik aus dem akustischen Phänomen der «Differenztöne» entwickelt. Dem Hörer brauchen die technischen Einzelheiten der kompositorischen Verfahrensweisen jedoch nicht bewusst zu sein; er kann sich ganz dem «sinnlichen Scheinen der Idee» überlassen. Schönheit, wie sie mit diesen Worten einst Hegel definierte, besitzt das Resultat zweifellos, auch dort, wo die Musik sich kantig zur wuchtigen Skulptur formt. Faszinierend ist es, dass sie wie ein großer Monolith wirkt, obwohl der sezierende Verstand in ihr gleichermaßen Elemente der Moderne wie des hochromantischen Violinkonzerts entdecken könnte, Clusterbildungen und Arbeiten mit dem Klang an sich neben historischen Einsprengseln thematisch-motivischer Arbeit.
Ihren Sonnengesang schrieb Sofia Gubaidulina aus Anlass von Mstislaw Rostropowitschs 70. Geburtstag und huldigte damit einem Musiker, der «in meiner Vorstellung stets von Sonne, Sonnenlicht und Sonnenenergie erhellt ist». Dabei griff sie, was nahe lag, auf den Sonnengesang des heiligen Franziskus zurück, ohne diesen jedoch im engeren Sinn zu vertonen. Respekt und Scheu vor dem «heiligen Text» ließen es der Komponistin angemessen erscheinen, die Partie des Chors «zurückhaltend, geradezu unscheinbar zu gestalten». Wenn die Sänger nicht gerade schillernde und fluktuierende Klangflächen erzeugen, lassen sie die im originalen Italienisch belassenen Verse in ein- oder akkordisch mehrstimmiger Rezitation ertönen. Innere Ruhe und Gelassenheit verströmt dieser Vokalpart, während das Solocello in seinen Monologen eine expressive Klangrede anstimmt. Dessen Part wird so zum eigentlichen Movens des Werks und sorgt immer wieder für Reaktionen der Sänger wie auch des Schlagzeugs und der Celesta, bevor die Cellostimme abschließend eine wahre Himmelfahrt vorführt: mit nur noch zwitschernden Tönen nach oben entschwebend, sonnenwärts.
Gerhard Dietel