Pärt, Arvo

Cantique

Stabat Mater for choir and string orchestra / Symphony No. 3 / Cantique des degrés for choir and orchestra

Verlag/Label: Sony 88697723342
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/02 , Seite 84

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 4
Booklet: 4
Gesamtwertung: 4

Für den Dirigenten Kristjan Järvi ist Arvo Pärt ein alter Bekannter. Er kennt ihn seit seiner Kindheit. Regelmäßig besuchte Pärt sein Elternhaus; zusammen mit seinem Vater, dem Orchesterleiter Neeme Järvi, arbeitete er in den 1960er Jahren als Tontechniker beim estnischen Rundfunk. Damals galt der bärtige Melancholiker als einer der radikalsten Vertreter der sowjetischen Avantgarde. Er widmete sich der Zwölftonmusik und arbeitete mit Collagen, vermischte seine eigenen Stücke mit fremden Kompositionen.
Der Wunsch, seine Musik stets originellen Neuerungen zu unterziehen, führte ihn allerdings in eine künstlerische Schaffenskrise, die insgesamt acht Jahre andauerte. In dieser schwierigen Phase entfernte sich Pärt zunehmend von den Ideen der Avantgarde, drehte das Rad der Zeit zurück und begann sich mit gregorianischen Chorälen, Vokalpolyphonie und der Musik der Renaissance zu beschäftigen. Das erste Ergebnis dieser Studien ist die 1971, acht Jahre vor seiner politischen Emigration in den Westen fertiggestellte dritte Sinfonie, in die Kristjan Järvi buchstäblich hineingeboren wurde.
Vielleicht liegt es an dieser Bindung, dass der Dirigent zusammen mit dem Berliner Rundfunk-Sinfonieorchester das aus drei Teilen bestehende Orchesterwerk so eindrucksvoll in Szene setzt, ein tiefgreifendes Verständnis für die Musik von Pärt aufweist. Gekonnt arbeitet er die dynamischen Feinheiten der einzelnen Abschnitte heraus, vermittelt im ersten Teil den Bläsern eine imposante Ausdruckskraft und versteht es auch, atmosphärische Erfahrungsräume zu öffnen, indem er den Klangkörper vorsichtig an die Hand nimmt, ihn sanft zarte Melodielinien spielen lässt.
Im Vergleich zu Pärts späteren Stücken ist die dritte Sinfonie nicht von jener Einfachheit geprägt, die man auch als «Tintinnabuli-Stil» bezeichnet. Auf den Klang der Glöckchen stößt Pärt erst später. Gemeint ist damit eine spezielle Technik, die den Dreiklang als Basismaterial einer Komposition nutzt. Dabei verwendet der Komponist zwei Stimmen. Die erste greift ausschließlich auf die Dreiklangstöne zurück, während die zweite Stimme die Dreiklangsstruktur mit einer Melodie umspielt, die sich in der­selben Tonart bewegt. Dieser Minimalismus verdichtet sich stellenweise zu komplexen musikalischen Architekturen, wurde aber oft von Kritikern als banal und esoterisch bemängelt.
Dass diese Einschätzung falsch ist, beweist Järvi mit einer Neueinspielung des Stabat Mater für Chor und Streichorchester, das ursprünglich für drei Singstimmen und Streichtrio konzipiert wurde. Die Neufassung bekommt dem Stück gut und zeigt, dass Pärts Musik trotz aller Schlichtheit trotzdem eine expressive Schönheit ausstrahlt.
Die CD schließt mit Cantique des degrés, einer Komposition, die Pärt für den Königshof in Monaco schrieb. In dem sanften, aber stets bestimmten Zusammenspiel von Chor und Orchester wird erneut deutlich, warum Pärts Musik so beliebt ist. Sie versteht es, den Hörer einzubeziehen.

Raphael Smarzoch