Capriccio – 20th- and 21st-Century Works for Solo Oboe

Werke von Heinz Holliger, Siegfried Thiele, Friedrich Schenker, Luca Belcastro, Hans Erich Apostel, Ernst Krenek, Friedrich Goldmann, Virginio Zoccatelli, Gilles Silvestrini und Bruno Maderna

Verlag/Label: Dynamic CDS 756
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/05 , Seite 86

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 4
Booklet: 4

Musik für ein Melodieinstrument allein zu schreiben ist allemal eine Herausforderung, erwartet der «Normalhörer» doch eine harmoniefüllende Begleitung, wenn nicht einen gewichtigen Deutungspartner am Klavier. Und doch wagten sich Komponisten im 20. Jahrhundert wieder auf das heikle Feld der Solosonate oder Solosuite, die der «alte Bach» in uneinnehmbare Höhen entrückt hatte. Der Reiz, Solomusik für Bläser neu zu erfinden, entsprang den Verheißungen des verbesserten Klap­pen­systems und neuer Anblas- und Atemtechniken. Die Behauptung, Debussy habe der Flöte und der Oboe nach über hundertjährigem Dornröschenschlaf wieder die Zunge gelöst, ist kaum übertrieben. Zug um Zug trieben Komponisten die virtuosen Anforderungen auf die Spitze – und manchmal darüber hinaus.
Was die Oboe betrifft, so brachte die ständige Suche nach neuen Klang- und Geräuschwerten eine Skala schneidender, durchdringender «Sonorismen» hervor – himmelweit entfernt von ihrer angestammten Genrewelt, von barocker Liebesklage und arkadischen Schäferstündchen. Stilistisch spannt sich der Bogen der Sololiteratur von neoklassischen Anwandlungen bis zu provokanten Geräusch-Exerzitien. Im Glücksfall verschmelzen Virtuose und Komponist zu einer Künstlerpersönlichkeit.
Wie der Schweizer Oboist Heinz Holliger, der sich als kaum 18-Jähriger an eine Solosonate wagte, der er erst 1999 den letzten Schliff verpasste. Eine kapriziöse Überraschung, mit der Enrico Calcagni sein ebenso spannendes wie betörendes Recital gewinnend eröffnet. Ihr folgen zwei Preziosen ostdeutscher Komponisten. Der Sachse Siegfried Thiele (*1934) widmete der Oboe zwei kurzweilige Inventionen, der Thüringer Friedrich Schenker (*1942) einen geistreichen Monolog.
Einem Gedicht Federico García Lorcas nachempfunden ist das Solostück La pobre Virgen blanca des 1964 in Como geborenen Luca Belcastro: ein Wunschtraum, den Strom der Zeit umzukehren, sie «eher in einen immerwährenden Quell zu verwandeln denn in einen Fluss, der dem Meere zustrebt». Der Zweiten Wiener Schule artverwandt klingen die Sonatinen zweier Komponisten, die ihr nahe standen, auch wenn sie ganz verschiedene Lebenswege einschlugen: der (wieder-) entdeckungswürdige Alban-Berg-Schüler Hans Erich Apostel und der umtriebige Emigrant Ernst Krenek.
Sound of Ledra (2007) heißt ein tonmalerisches Solostück für Englischhorn des Italieners Virginio Zoccatelli (*1969). Die sprudelnde, strudelnde Unruhe des Sturzbachs erinnert an Leonardos wunderbare Wasserwirbel-Studien. Synästhetisch veranlagt ist auch der Franzose Gilles Silvestrini (*1961). Sein ruhig-elegantes Solo Paysage avec Pyrame et Thisbé (1995) entspringt der klassizistischen Landschaft Nicolas Poussins, das Schwesterwerk Boulevard des Capucines verweist auf das blauviolette Stimmungsbild des Impressionisten Claude Monet.
Ein Kuriosum ist das hochvirtuose Solo für Musette, Oboe, Oboe d’amore und Englischhorn, das Bruno Maderna 1971 – zwei Jahre vor seinem frühen Tod – aus seiner Komposition Ausstrahlung für Frauenstimme, Flöte, Oboe, Orchester und Tonband destillierte.

Lutz Lesle