Carl Ludwig Hübsch’s Primordial Soup

Souped-Up

Verlag/Label: jazzwerkstatt, jw 096
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/05 , Seite 81

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 4
Booklet: 4
Gesamtwertung: 4

Wo stehen der Neue Jazz und die Improvisierte Musik heute? Es schadet nichts, ab und an so grundsätzlich zu fragen, will man in der unübersicht­lichen Musiklandschaft einen klaren Kopf bewahren. Allerdings ist die Vielfalt derart überwältigend, dass der Versuch, einen Querschnitt zu ziehen, einer Herkulestat gleichkommt. Doch zur Not oder zum Glück geht es auch kurz und provisorisch. Eine durchaus passable Antwort dreht sich nämlich in meinem CD-Player und will besprochen sein.
Der Neue Jazz, oder wie immer man die auf Komposition und Improvisation fußende Musik der Gegenwart nennen mag, kann alles und darf alles! Das kommt einem zumindest in den Sinn, nachdem man Carl Ludwig Hübsch’s Primordial Soup durch die fünf Stücke von Souped-Up gefolgt ist. Kann alles: Es gibt, scheint es, nichts, was den vier Musikern unmöglich wäre. Mit welcher Raffinesse sie die Tonlagen und Ausdruckspaletten wechseln, ist schon beeindruckend. Das zweiteilige Stück Floater, Gesten beispielsweise verlangt exaktes Timing ebenso wie unaufdringliche Lautmalerei. In Vier hingegen treiben Hübschs pumpende Tuba und Grieners lässig rumorendes Schlagzeug die beiden Bläser zu instrumentalistischen Höhenflügen. Die umtriebigen Herren Dörner und Gratkowski, Letzterer macht mit Hübsch auch im James Choice Orchestra gemeinsame Sache, bestechen als Solisten ein ums andere Mal: zwei zuverlässige Garanten für kreative Mu­sik mit Herz und Verstand.
Der Neue Jazz, auch dafür ist diese CD ein Exempel, darf alles, will sagen: Berührungsängste sind ihm fremd. Die Engstirnigkeit der «Jazz muss swingen»-Doktrin hat er längst links liegen gelassen. Dem Komponisten Hübsch sind Strukturen wichtig, wichtiger jedenfalls als Melodien oder Harmonien, die es auch gibt: In Modulmodulationen etwa wird die anheimelnde Anfangsmelodie peu à peu in einen porösen Aggregatzustand überführt. Die Strukturvorgaben sind rhythmisch verzwickt, vielschichtig und in jedem Fall offen für unvorhersehbare Entwicklungen. Hübschs Füllhorn ist randvoll von solchen strukturellen Einfällen. Wo endet die Komposition, wo beginnt die Improvisation? Das ist nicht eindeutig zu sagen, weil die Grenzen ineinander laufen und letztlich gleichgültig sind.
Strukturschwache Stücke gibt es ebenfalls. In ihnen versenken sich die Musiker ins Innere der Klänge, bis sie über die Geräuschschwelle hinaus an die Stille stoßen – oder umgekehrt, wie in Solist am Rand, aus der Stille heraus einen Gruppenklang aufbauen. Axel Dörner ist ein Meister dieser musikalischen Tiefenhermeneutik, die jeden Ton aufschlüsselt, um herauszufinden, was in ihm steckt.
Wenn es Vorläufer für den von Hübsch und Co. eingeschlagenen Weg gibt, dann sind es die Akteure der
Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM): Muhal Richard Abrams, Roscoe Mitchell, Leo Smith und nicht zuletzt Anthony Braxton, dessen Spuren einem auf Souped-Up auf Schritt und Tritt begegnen. Wo steht der Neue Jazz? In einer lebendigen Tradition des Suchens und Findens, die Anregungen bereithält, aber nichts vorschreibt.
Timo Hoyer