Stäbler, Gerhard

Cassandra

Verlag/Label: gligg records CD 039
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/06 , Seite 80

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 3

Der Kassandra-Mythos und seine literarische Deutung durch Christa Wolf treiben Gerhard Stäbler schon seit Jahrzehnten um, was nicht zuletzt an der politischen Sprengkraft des Stoffes um das Schicksal der antiken Seherin liegt: «Die Figur der Kassandra hat mich deswegen immer fasziniert, weil in jeder Zeit meines Lebens sofort Parallelen zur Gegenwart sichtbar waren.» Gipfel- und Kulminationspunkt dieser Affinität war Stäblers Musiktheater CassandraComplex (1993/94), dem eine ansehnliche Zahl kammermusikalisch konzipierter «Kassandra-Studien» vorausgingen. Cassandra, Musik für Stimmen, Schlagzeug und Tonband (1996) ist so etwas wie ein heftiges Nachbeben der Oper, hervorgegangen aus einer Auftragsarbeit des Saarländischen Staatstheaters Saarbrücken für die Uraufführung des Tanzstücks Kassandra von Birgit Scherzer im Mai 1997. Stäbler weist jedoch darauf hin, dass seine Cassandra-Musik auch ohne den choreografischen Zusammenhang und mythologisch-literarischen Hintergrund funktioniere, als eine Musik, deren kontrastive Klangcharakteristik eine eigene Dramaturgie entwickelt. Der Bezug zur Vorlage bleibt jedoch in jeder Klangfaser als abgründiger (Unter-)Ton spürbar.
Gleich der Beginn lässt mit beeindruckender Intensität keinen Zweifel daran, dass Schmerz, Gewalt und Ausweglosigkeit die Geschicke der Tochter des Priamos begleiten. So jedenfalls tö­nen die kreischend-aggressiven Tonbandschleifen, die sich klaustrophobisch und rhythmisch zerhackt im Kreise dre­hen, gleich vom ersten Takt an den Untergang beschwörend. Eine überzeugende Synthese von elektronischen Klängen, archaischen Perkussionsfarben und vokalen Artikulationen in Fantasie­sprache zeichnen die neun Klangbilder zu ursprünglich sieben Szenen (des Tanztheaters) aus. Sphärische Flächen und collagenartige Tumulte stehen hier gleichermaßen unheilschwanger in spannungsträchtigem Wechselverhältnis; in «Die ungläubige Priesterin» steigert sich ein bedrohlicher Schwebe­zustand mit diffusen Stimmgeräuschen zum hysterischen Lautmonolog, von Stäbler selbst mit erfrischender Irrheit vorgetragen – eine Vorahnung der «Ro­­hen Gewalt» des sechsten Abschnitts mit seinen lärmenden Klangwogen, die Angst und Terror heranspülen. Atmosphärisch besonders dicht und vielschichtig treffen sich die einzelnen Klangebenen im melancholisch vergrübelten achten Abschnitt («Die Mutter»), dessen Bestandteile immer stärker auseinanderbröseln.
Das Schlusswort hat «Das Opfer», das die im gesamten Stück leitmotivisch repetierten Tonbandschleifen nun mit aller Härte und Bedrohlichkeit zurückkehren lässt. Als wollten sie eine der zentralen Gedanken der Wolf-Adaption ins Gedächtnis hämmern: «Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg? Falls es da Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen. In Ton, in Stein eingraben, überliefern. Was stünde da? Da stünde, unter anderen Sätzen: Lasst euch nicht von den Eignen täuschen …»

Dirk Wieschollek