Quell, Michael

Chamber Music

Verlag/Label: NEOS 11046
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/02 , Seite 80

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Booklet: 5

Michael Quell, Jahrgang 1960, studierte Musik mit Hauptfach Gitarre sowie Philosophie und Theologie in Frankfurt am Main. Seine Komposi­tionslehrer waren Hans-Ulrich Engelmann und Rolf Riehm. Heute lebt er als Komponist in Fulda und lehrt Musiktheorie und Analyse am musikwissenschaftlichen Institut der Frankfurter Goethe-Universität.
In seiner Musik wechseln krude Splitterlandschaften mit Oasen utopischer Schönheit. Die virtuosen Instrumentalisten des Freiburger Ensemble Aventure gehen ihr intellektuell auf den Grund. Ihr gut einstündiges Programm, annähernd chronologisch aufgebaut, beginnt mit «Ekstare» für Flöte, Oboe und Streichtrio (1988/90). Der Titel, der an Heideggers «Ruf der Sorge» anknüpft, bedeutet: außerhalb stehen. Der Hörer sieht sich amorph-vereinzelten Ereignissen ausgesetzt, die nur mühsam Gestalt annehmen und Zusammenhang gewinnen – Abbild der Unbehaustheit, des Hineingeworfenseins in die Welt («In der Welt habt ihr Angst»). Ein nichtlinearer Prozess der Verdinglichung und Verdichtung kommt in Gang, läuft aus in beredte Stille.
Das Flöte-Gitarre-Stück «temps et couleurs I» (1995) bezeichnet der Komponist als «Suche nach neuen Klang- und Wahrnehmungsräumen». Ein mittel­alterlicher Hymnus liegt ihm zugrunde. Er bestimmt das Klanggeschehen mal offenkundiger, mal verhüllter, wird fortschreitend «dekomponiert». Auch das Streichtrio «Le son d’un monde secret et couvert» (1994) widmet sich der Erschließung unerhörter Räume. Passagen ereignisreicher Stille wechseln mit Phasen der Verdichtung, die im Verklumpen schon wieder zerbröseln. Glissandi und mikrotonale Felder pendeln zwischen Statik und Dynamik. Raum und Zeit fließen ineinander.
Vier Aggregatzustände beschreibt die Klavierstudie «anisotropie» (2001) – ein Begriff aus der Physik, den der jüngste Brockhaus als «Richtungsabhängigkeit verschiedener physikalischer und chemischer Eigenschaften eines Stoffs, insbesondere bei Kristallen» erklärt. Letztlich geht es um druck- und temperaturabhängige Zustandsformen der Materie. So verdichtet sich das Material in Aggregat III quasi zum Schwarzen Loch. In Aggregat IV erscheint die Zeit wie angehalten.
Wie in temps et couleurs herrschen auch in «Achronon» für Akkordeon und Gitarre (2008/09) Mikrointervalle vor, verbunden mit zart changierenden Glissandi, die ein klangfarbliches Universum entfalten und die Diktatur des linearen Zeitlaufs aufheben. Der Werktitel, dem Kulturphilosophen Jean Gebser entlehnt, meint «Zeitfreiheit». Ein Gedanke, der sich mit Bernd Alois Zimmermanns Vorstellung einer kugelgestaltigen, verräumlichten Zeit berührt.
In «Anamorphosis II» (Polymorphia) für Ensemble in verschiedenen Raumkonstellationen (Version A, 2002/03), spiegelförmig angelegt und aus zehn miteinander verzahnten Teilstücken bestehend, erkennt Booklet-Autor Ernst Helmuth Flammer eine Art Schöpfungsgeschichte: eine «Wanderung des Seins», die strudelartig im Apokalyptischen oder Schwarzen Loch endet. Für Musiker und Hörer kein erquicklicher Ort.

Lutz Lesle