Müller, Knut

Chamber Music

Verlag/Label: edition zeitklang, ez-48050
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/03 , Seite 86

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 5
Booklet: 4

Knut Müller vermeidet es, zwischen seiner Tätigkeit als Komponist und als bildender Künstler einen Bezug herzustellen. Obwohl dieser also nicht explizit besteht, speist sich zumindest seine Inspiration bei den vorliegenden Werken immer aus einer narrativen oder gar explizit visuellen Vorlage. Dabei lassen sich andeutungsweise strukturelle Ähnlichkeiten in der Konzeption seiner Musik zu den Mustern und verschlungenen Formen seiner Bilder feststellen, die im Booklet zur CD Chamber Music abgedruckt sind. Sie muten wie technische Zeichnungen an, sind aber um den Aspekt der Funktionalität beraubt und erheben stattdessen die ästhetische Komponente zum alleinig konstitutiven Element.
So rückt auch in den kompilierten Kammermusikwerken Müllers das Material in den Fokus und seine Bearbeitung und Transformation gestalten den werkimmanenten Prozess. Den beiden Streichquartetten Thorn (1996) und Zeug (1999) legt Müller jeweils Spielweisen zugrunde, die in der Regel nur punktuell Einsatz finden, hier aber zum Prinzip erklärt werden: In Thorn ist es das Glissando, das einen omnipräsenten Akkord umspielt, ihn verschleiert, defragmentiert und wieder zusammensetzt. Müller wählt den Akkord als musikalische Repräsentation eines Hauses in Thorn, dem heutigen Torun (Polen), das in der gleichnamigen Erzählung Lars Gus­tafssons über die Jahrhunderte hinweg in all seinen Veränderungen betrachtet wird. Wie das Haus überdauert auch der Akkord in steter Metamorphose.
In Zeug fusionieren zwei an sich widersprüchliche Spieltechniken: Mit dem Holz des Bogens wird geschlagen (col legno battuto), gleichzeitig tremoliert. Müller nennt die Komposition den «Entwurf einer akustischen Landschaft» und verwendet die eigentümlichen Stac­cato-Schläge wie Pinselstriche auf impressionistischen Gemälden. Der Titel ist gleichsam ein Verweis auf das «Zeug» im Sinne des umweltlich Zuhandenen bei Heidegger, das etymologisch mit «erzeugen» verwandt ist und immer einen kreativen Prozess impliziert.
Im zwischen 2001 und 2006 entstandenen Zyklus für Klavier solo dienen weibliche chthonische Wesen aus der griechischen Mythologie als Leinwand. Deren Fähigkeit zum Gestaltwandel und ihr zumeist unstetes, wechselhaftes Gemüt gießt Müller in drei eindringliche, bisweilen brutale Klangporträts zwischen verklärten Obertonflächen und plötzlich hereinbrechenden fff-Clusterschlägen. Der Pianist Steffen Schleiermacher, dem die Werke gewidmet sind, beeindruckt hier mit einer unbarmherzigen und erschreckend prä­zisen Auslotung uralter Abgründe.
Dialektische Gegensätze sind in den beiden Streichtrios Niflheimr (2007) und Muspellsheimr (2009) Gegenstand. Die beiden titelgebenden Ursprungsorte der nordischen Mythologie liefern Vorlagen für eine kontrastierende musikalische Ausgestaltung. Alle Gegensätze und technischen Finessen sind schließlich in den letzten beiden Werken für Pianola/Phonola aufgehoben. Gnomon (2006) und Glyphe (2009) zelebrieren einen Materialeklektizismus als wahnwitzige, unspielbare Fantasie, ein Auflösen aller Parameter in der freigelegten Struktur. Sie existiert nun für sich allein, einem Perpetuum mobile gleich, dessen Entwürfe man nach dem Hören auch auf den Zeichnungen Müllers erahnen kann.

Patrick Klingenschmitt