Birtwistle, Harrison

Chamber Music

Verlag/Label: ECM New Series 2253
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/06 , Seite 86

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 5
Booklet: 4

Am 15. Juli feierte Harrison Birtwistle seinen 80. Geburtstag. Wenige Wochen zuvor wurde die vorliegende CD veröffentlicht. Sie dokumentiert eindrücklich, wo die stilistischen Wurzeln von Birtwistle liegen, aber auch, welche dieser Wurzeln er im Lauf der Zeit gekappt hat. Und nicht zuletzt legen die hier versammelten Werke Zeugnis davon ab, dass Birtwistle ganz im Gegensatz zu einer Reihe von Komponisten seiner Generation keine ideologischen Steckenpferde geritten hat. Einmal gefragt, woher seine Musik komme, gab er lakonisch zur Antwort: «Aus meiner Vorstellung». Dass das oft ein mühsamer Weg war, ohne Hilfe eines zuvor zurechtgelegten Masterplans, gab er im Anschluss zu Protokoll. Ein Stück Musik müsse «sich aus einer absoluten Notwendigkeit und einem Zusammenhang heraus einstellen, erst dann wird es wahrhaftig. […] Beim Komponieren denke ich immer wieder: ‹Das wäre aber eine interessante Art zu beginnen, das werde ich so machen.› Am Ende eines Arbeitstages ist es schon keine besondere Idee mehr. […] Irgendwie ist eine Idee so gut wie die andere – es geht da­rum, wie man damit umgeht.»
Birtwistle hat dieses «Wie» stets mit der ihm eigenen Originalität beantwortet, für die Ohren der Verfechter kompositorischer Ideologien oft mit provokanter Schärfe und Gelassenheit. Ließen sich an den Werken von Birtwistle einst unterschiedlich stark ausgeprägt Einflüsse von Strawinsky, Messiaen, Boulez oder Cage feststellen sowie eine nur ihm eigene, spezifisch körperhafte Rhythmik, scheint er jetzt, in der Phase seines Spätstils, den Weg des streng Reduktionistischen, Konzentrierten im Sinne eines Anton Webern zu gehen.
Diese Musik bildet den Rahmen der Dramaturgie auf der vorliegenden CD. Am Beginn stehen die ersten drei der insgesamt zwölf Settings of Lorine Niedecker für Sopran und Cello, geschrieben 1998 zum 90. Geburtstag von Elliott Carter. Was Birtwistle dabei interessierte, bewegte, nämlich das zarte Schwingen von Intervallspannungen, insbesondere das großer Intervalle, wird hier von Amy Freston (Sopran) und Adrian Brendel (Violoncello) mit hoher Ener­gie musiziert, ebenso wie am Ende die übrigen Settings auf Gedichte der US-amerikanischen Dichterin Lorine Niedecker, komponiert in den Folgejahren. Man darf die Bezeichnung «Setting» hier durchaus auch im theatralischen Sinn anwenden, denn «nur» atmosphärisch sind diese Miniaturen nicht angelegt. Dass den ersten drei Settings das Klaviertrio aus dem Jahr 2010 gegenübergestellt wird, lässt sich als interessante dramaturgische Volte lesen. Gespielt wird diese Replik Birtwistles auf den spätromantischen Schönberg und den reduk­tionistischen Webern von den Widmungsträgern Batiashvili, Brendel und Fellner, streng fokussiert auf den Atem des großen Liedes ohne Worte.
Als Pendant hierzu fungiert Bogenstrich. Meditations on a poem of Rilke, ein fünfteiliger Zyklus. Dieses Spiel Birtwistles mit dem Phänomen von Musik über Musik wird von den Interpreten feinfühlig als das geformt, was es ist: als eine Zeitkapsel von spätromantischem Glanz, gemacht aus dem kompositorischen Material der klassischen Moderne.

Annette Eckerle