Carter, Elliott

Choral Works

Verlag/Label: Hänssler Classic 93.231
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/02 , Seite 82

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 4
Booklet: 4
Gesamtwertung: 5


Mehr als ein halbes Jahrhundert musste sich der Grand Old Man der amerikanischen Musik gedulden, um seine Chormusik so umfassend dokumentiert zu sehen und so meisterhaft interpretiert zu hören! Als Elliott Carter
– mittlerweile 102 Jahre alt – 1953 in der Harvard Summer School «The Need for New Choral Music» erörterte und für eine zeitgemäße amerikanische Chormusik eintrat, hatte er – während seiner Studienjahre selber Chorsänger – längst alle Chorstücke geschrieben, die Marcus Creed jüngst mit seinem erlesenen SWR Vokalensemble aufnahm. Zwischen 1936 und 1947 entstanden, umreißen die zehn Chorkompositionen der CD ein vielgestaltiges Stilpanorama, das von der Bildhaftigkeit italienischer Madrigalkunst über die eher schlichte Homophonie des viktorianischen Partsong bis zu chromatisch wuchernder Polyphonie reicht, die an Chorsätze Max Regers erinnern. In der melodramatischen Chorszene The Defense of Corinth verknüpft Carter 1941 sogar Rezitation, Gesang und Instrumental­begleitung wie vordem Strawinsky in Oedipus Rex.
Ähnlich dem ihm befreundeten Aaron Copland verfügt Carter über ein breites Band musikalischer Idiomatik, die er der Textsituation, Bilderwelt und Gestimmtheit der dichterischen Vorlage entsprechend einsetzt. Wobei ihm die Verständlichkeit seiner Klangsprache immer oberstes Gebot bleibt. Auch wenn in seiner Chormusik gelegentlich Luft von anderem Planeten weht – die Anziehungskraft eines Grundtons bleibt stets spürbar.
Das seinem Dirigenten Marcus Creed innig verschworene SWR Vokalensemble macht sich die chorischen Ausdruckswelten Carters mit großer Delikatesse zu eigen – seien es die Helldunkel-Tönungen im vierstimmig gemischten Chor Heart not so heavy as mine auf einen Herzenserguss der amerikanischen Lyrikerin Emily Dickinson, seien es die maskulinen Anrufungen der Frühlingsgöttin Flora in Gestalt einer vierhändig klavierbegleiteten Tarantella, der aufgeräumte Volksliedton in Let’s be Gay für Frauenchor und zwei Klaviere oder gewisse Schroffheiten in den Emblems auf Erinnerungslyrik von Allan Tate, die um das Trauma des amerikanischen Bürgerkriegs kreisen. Begeisternd nicht zuletzt die ironisch blitzende Defense of Corinth für Männerstimmen samt Sprecher und Pianistenpaar auf ein Fragment des Renaissance-Dichters Rabelais, das Carter dessen Volksbuch über die Riesen Gargantua und Pantagruel entnahm: Diogenes, von den Kampf­vorbereitungen der Frauen ge­gen die Makedonier ausgeschlossen, parodiert diese, wie von der Tarantel gestochen, auf den Wänden seiner Wanne.

Lutz Lesle