Stordeur, André

Complete Analog and Digital Electronic Music 1978-2000

3 CDs

Verlag/Label: Sub Rosa SR395
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/05 , Seite 81

Musikalische Wertung: 3

Technische Wertung: 4

Booklet: 5

 

In den 1970er Jahren, als elektronische Momente immer mehr Bestandteil der Rock- und Jazzmusik wurde, legte der 1941 in Belgien geborene André Stordeur die Trommelstöcke beiseite, die er als Jazzschlagzeuger von 1959 bis dahin für das Modern Jazz Quartet des Saxofonisten John Van Rymenant benutzt hatte, und widmete sich den musikalischen und klangtechnischen Möglichkeiten, die neue Instrumente wie der Synthesizer boten. Aber Stordeur spürte, dass er künstlerisch mit sich nicht im Reinen war und suchte neue Spielwiesen und Betätigungsfelder. 1973 startete er mit einer Tonbandkomposition, die den Soundtrack des Films Office Baroque von Gordon Matta-Clark darstellte. Später schloss er sich dem Avantgardemusik-Ensemble «Stu­dio voor Experimentele Muziek» in Ant­werpen an. 
Seit den 1980er Jahren entwickelte sich der sogenannte Serge-Synthesizer, der von seinem Erfinder Serge Tcherepnin als Serge Series 79 und Serge Protoype 1980 speziell für André Stordeur zugeschnitten war. Stordeur studierte 1981 am IRCAM in Paris und ging später nach Amerika, wo er in Morton Subotnik seinen Meister fand. Auf drei CDs mit 16-seitigem Booklet werden nun alle elektronisch-musikalische Arbeiten Stordeurs von 1978 bis 2000 vorgestellt, wobei die meisten bisher unveröffentlicht sind.
Wenn in der Liste der Kompositionen Titel wie Raga oder Drones, Karma oder Tablas (sechs bisher unveröffentlichte Synthesisstudien) auftauchen, dann hat das seinen tieferen Grund. Stordeurs musikalisches Interesse galt auch der indischen Mu­sik, deren Elemente wie eben die Drones oder Ragas in seinem eigenen musikalischen Werk Spuren hinterließen. 
Die erste CD enthält eine Wiederveröffentlichung der 1978/79 entstandenen LP 18 Days, auf der Stordeur ausgiebig mit Brummbasstönen, also Borduntönen, experimentiert. Die Musik wirkt wegen der Intensität dieser Tieftöne beunruhigend bis bedrückend, erfährt durch die Einfügung langsam vor sich hin tröpfelnder Melodien jedoch phasenweise erfrischende Soundüberraschungen. Die zweite CD enthält unveröffentlichte analoge und digitale Arbeiten aus den Jahren 1980 bis 2000, darunter das Stück Oh Well, das mit 35 Minuten längste der Edition. Dieser Oh Well-Seufzer entstand in der Zeit, als Stordeur eine schmerzvolle Scheidung von seiner ersten Frau durchstehen musste. Klangtechnisch plustert das Stück sich ziemlich auf, springt ständig in verschiedenen Bahnen hin und her, wiederholt sich in hysterisch angelegten Pattern. «Diese Komposition war ein wichtiger Schritt in meiner musikalischen Suche», bekannte Stordeur. 
Chant 10A beginnt wie das vorangehende Oh Well mit einem geräuschlastigen Industrial Sound, verändert jedoch relativ kurzfristig das zappelige Auf- und Abschwellen zugunsten ei­ner harmonischeren Struk­tur. Nervous präsentierte Stordeur im «Nervous Center» in Chicago als Solo-Liveprogramm mit dem Midwestern Elec­tronic Music Ensemble. Es bietet allerdings der Fantasie zu wenig Raum und scheint mit allen Beteiligten durch die Partitur zu straucheln. Es zählt sicher zu den schwächeren Arbeiten von André Stordeur.
Klaus Hübner