Xenakis, Iannis

Complete String Quartets

Verlag/Label: mode 209
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2009/05 , Seite 88

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 5
Booklet: 5
Gesamtwertung: 5

Vier Streichquartette komponierte Iannis Xenakis zwischen 1956 und 1994. Trotz des sparsam erscheinenden Streichquartett-Œuvres muss er als einer der bedeutendsten Protagonisten dieser Musiksparte betrachtet werden. Schaut man auf Tetras von 1983, scheinen die Dämme zu brechen, das Klangwellengemisch stürzt mit ungebändigter Wucht auf die ungeschützt liegenden Streichquartett­regeln. Xenakis zerschmettert in diesem dem Arditti Quartet gewidmeten, 1983 in Lissabon uraufgeführten Stück den Konsens einer akustisch geprägten Musik und bietet ihr die elektronische Stirn. Mit akustischen Instrumenten! Die klingen allerdings viel mehr nach Elektronik als mancher auf akustisch getrimmte Computer. Die notwendige erweiterte, «fortgeschrittene» Streicherspieltechnik erfüllt das Jack Quartet herausragend. Das junge Streicherensemble, dessen Vornameninitialen die Quartettbezeichnung bilden (John Pickford Richards, Ari Streisfeld, Christopher Otto, Kevin McFarland), entzieht sich in scharfen, auf die Glissandi fokussierten Klangsequenzen dem Diktat der Ästhetik und fordert höchste Ansprüche an Geschlossenheit (der Spieler) und Toleranz (des Publikums).
Eine Abkehr vom Glissandoübermaß vollführte Xenakis mit Tetora von 1990, dem er eine gewisse Besinnlichkeit verpasste. Kein Deut von schriller Ekstase, vielmehr ein fast zart zu nennendes Gebilde in einer entzerrten Klangwelt. Hier steht Xenakis noch in der Tradition der klassischen Streichquartette, wagt aber bereits mehr als eine Nasenspitze in die Atonalität zu recken.
Bereits früh, als Computer noch ein Gänseblümchendasein im Alltag und erst recht in der Musik führten, beschäftigte Xenakis sich schon mit dieser neuen Technik. ST-4/1,080262, sein erstes Streichquartett (1956-62), basiert auf dem für gemischtes Ensemble komponierten ST/10, das Xenakis mittels algorithmischer Com­puterberechnungen ausarbeitete. Die Version für Streichquartett enthält sowohl streichertypische Sequenzen wie auch perkussive Elemente. Sie markiert (auch) eine Art des Fortschrittsgedankens, den der früh verstorbene italienische Komponist Federico Incardona (1958-2006) so definierte: «Gerade der Begriff des Fortschritts ist eine doppelte Mondsichel, eine Zweideutigkeit, die schon auf dem Sprung steht, in tausend Kristalle zu zersplittern und sich jedem Zugriff zu entziehen.» (zitiert nach Musik-Konzepte 100: Was heißt Fortschritt?, München 1998) Die Interpretation durch das Jack Quartet umwickelt diesen Fortschrittsgedanken mit feder­leichten Spannungsbögen und tropfenförmigen, sich tastend bewegenden Tonschritten. Etwa so, wie der Fortschritt oft nur im Schneckentempo elementare Hindernisse überwindet.
Dagegen beginnt Ergma eher rückwärts schreitend, schwerblütig, in einem Kokon tiefer Oktaven eingesponnen, aber entschlossen, auch dem Fortschritt zu folgen. Es taucht ein in die beziehungslose, aus dem Rahmen der Geometrie fallende Kunst des holländischen Malers Piet Mondrian. Zeitlich gesehen ist es das letzte Streichquartett von Iannis Xenakis. Ergma existiert als Aufnahme nur auf dieser CD, die im übrigen das komplette Streichquartettwerk von Iannis Xenakis enthält.

Klaus Hübner