Janácek, Leoš

Complete String Quartets

Verlag/Label: audite 92.545 SACD
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/02 , Seite 87

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 5
Booklet: 5
Gesamtwertung: 5

Nächst den sechs Streichquartetten Bartóks zählen Kenner die beiden Streichquartette des «späten» Janácek zu den kostbarsten Gattungsbeiträgen des 20. Jahrhunderts. Auch Janácek war ein leidenschaftlicher Volkslied-Sammler. Zudem studierte er die Tonfälle der tschechischen Sprache, wobei er Wert darauf legte, unterschiedliche Sprechsituationen und Gefühlsregungen zu erfassen. Ziel seiner Sprechton-Forschungen war es, die ganze Affekt­skala des Menschen so «lautnah» wie möglich einzufangen. So hat selbst der Hörer seiner Kammermusik oftmals den Eindruck, imaginären Gesprächsszenen beizuwohnen.
Beste Voraussetzungen, um auch eigene Empfindungen und Leidenschaften musikalisch so mitzuteilen, dass eine verschwiegene Adressatin sie versteht. Allerdings waren Komponist und Angeschwärmte unvorsichtig genug, der Nachwelt ein Konvolut Schwarmbriefe zu hinterlassen. So bedurfte es keiner semantischen Analysen, um die Frau namhaft zu machen, der Janácek seine Streichquartette zudachte: Kamila Stösslová, junge Gattin eines Brünner Altwarenhändlers. Note für Note sei ihm «glühend aus der Feder geflossen», so Janácek. Was sich das Mandelring Quartett nicht zweimal sagen ließ. Mit überbordender Einfühlungskraft zeichnet das Ensemble ein Seelendrama in vier Sätzen, in denen sich die Charakterfolge der antiken Tragödie mit Exposition, Peripetie (Glückswechsel), Krisis und Katastrophe umrisshaft abzeichnet. Intuitiv erfassen die fabelhaften Kammermusiker auch den Symbol-Charakter des Grund- oder Leitmotivs (aufsteigende Quart-Quint-Figur – absteigende Sekund-Terz-Figur), dessen Kreuzesform auf die Tragik des Sujets zu verweisen scheint. Auch widersteht das Quartett der Versuchung, die Sprunghaftigkeit, Unruhe und Verstörtheit etlicher Stellen zu glätten.
Das eigentliche Ereignis dieser Edition aber ist der geglückte und beglückende Versuch, die Urfassung des zweiten Streichquartetts aus Janáceks Todesjahr 1928 wiederherzustellen. Hatte der Komponist sein «heißes Bekenntnis der Liebe», das der Beiname Intime Briefe gelinde herabstuft, doch der Viola d’amore anvertraut. Der «Liebesviola», wie er seiner Geliebten gestand: «In dieser Arbeit werde ich mit Dir allein sein. Kein Dritter neben uns.» Weil der Bratscher des Mährischen Quartetts mit der Viola d’amore nicht zurande kam, ließ sich der Komponist dazu herbei, den Part für die Bratsche umzuschreiben. Die vorliegende CD lädt zum Vergleich beider Versionen ein. Hierzu erarbeiteten Gunter Teuffel, Solo-Bratschist des SWR Sinfonieorchesters Stuttgart, und das Mandelring Quartett aufgrund der Quellenforschungen des tschechischen Bratschisten Milan Škampa eine eigene Fassung.
Der Hör-Vergleich fällt spontan zugunsten der Ur-Partitur aus – schon allein wegen des obertonreichen Klangs der (mit Resonanzsaiten ausgestatteten) «Liebesbratsche», deren Klang Johann Gottfried Walther 1732 als «argentin oder silbern, dabey überaus angenehm und lieblich» beschrieb. Für die Intimen Briefe stimmte Gunter Teuffel seine kostbare Viola d’amore einen Halbton tiefer als üblich (in Des-Dur) – im Einklang mit der historischen Stimmung und der Grundtonart des Werks.

Lutz Lesle