Shostakovich

Complete String Quartets

5 CDs

Verlag/Label: audite 21.411
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/04 , Seite 90

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 5
Booklet: 5
Gesamtwertung: 5

Staunend steht die Nachwelt vor zwei monumentalen Werkblöcken, die Dmitri Schostakowitsch der Menschheit schenkte: ein Konvolut von je 15 Sinfonien und Streichquartetten – Bruchstücke einer großen Passion, die Dirigenten, Orchester und Quartettvereinigungen ebenso bewegen und herausfordern wie Musikforscher, Pädagogen, Publizisten und Kritiker.  Jetzt hat das Mandelring Quartett die Streichquartette herausgebracht: ein Kompendium unterschiedlichster zyklischer Formlösungen, Satzstrukturen und exzessiver Ausdrucksmittel, in denen sich eine widersprüchliche Persönlichkeit offenbart.
«Dmitri Schostakowitsch ist ein Wackerstein, den der Magen der russischen Kultur nicht verdauen kann», konstatierte die Moskauer FAZ-Korrespondentin Kerstin Holm 2006. Zwischen «Grauen und Grandezza des 20. Jahrhunderts» ortet ihn die Zeitschrift Europa. Michael Struck-Schloen versteht die Streichquartette, zwischen 1938 und 1974 entstanden, als «Essays über die Möglichkeit von Kunst unterm totalitären Regime» (Booklet). Wohl könnte man auch von Stationen eines Kreuzwegs sprechen: vom divertimentohaften Erstling, der den Zwingherren zu willfahren scheint, die ihm «Chaos statt Musik» vorwarfen, bis zum kahlen «letzten Wort», das in Nacht und Schweigen untergeht. Nie wagte sich der Komponist so nah an den Existenzrand wie in den sechs langsamen Sätzen dieses Spätwerks (Streichquartett Nr. 15 es-Moll op. 144), beginnend mit einer Elegie, deren Schreitrhythmus an Schuberts Lied Der Tod und das Mädchen gemahnt. Ihr Thema, von Wendungen orthodoxen Kirchengesangs berührt, zieht eine schleppende Fuge herbei, die an Paul Celans Todesfuge erinnert. Der folgende Satz lässt Crescendi wie aus dem Nichts anschwellen, während hart abreißende Akkorde eine groteske Pier­rot-Serenade herbeizitieren, der die erste Violine einen müden Walzer entgegenhält.
«Stimmen, nachtdurchwachsen» könnte man die Werkdeutung des Mandelring Quartetts umschreiben – eine Fahlheit, die sich oftmals der Hörgrenze nähert, weltverloren, auflösungsbedroht. Wie jenes andere «letzte Wort», das Luigi Nono wenige Jahre später gleichfalls dem Streichquartett anvertraute: Fragmente – Stille, an Diotima (1979/80). Selbst der pathetisch anhebende Trauermarsch verbröselt in Einzelstimmen. Als misstrauten sie kollektiver Kondolenz, fahren sie immer wieder in die Trauerakkorde. Reminiszenzen an Motive der vorangegangenen Sätze geistern durch das letzte, epilogartige Adagio, das mit dem Trauermarsch-Rhythmus ersterbend ausklingt – Reminiszenz an Leiden und Größe der Lady Macbeth von Mzensk.
Wobei das Mandelring Quartett immer auch spüren lässt, dass die Partituren des politisch Drangsalierten und körperlich Zerrütteten musikalisch «dankbar» sind. Verlangen sie doch von den Interpreten nichts Utopisches. Schließlich komponierte Schostakowitsch fast all seine Quartette für seine treuen Musikerfreunde, die sie uraufführten: das Beethoven-Quartett (Leningrad/Moskau). Mehr noch: mehrere seiner Quartette sind eigens einem von ihnen gewidmet, eingedenk seiner persönlichen Eigenart (und der seines Instruments). Das sublime Vergnügen der Spieler war ihm allzeit eine conditio sine qua non. Lutz Lesle