Lachenmann, Helmut

Complete String Quartets

Gran Torso | Reigen seliger Geister | Grido

Verlag/Label: mode records, mode 267
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/06 , Seite 88

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 4

Gleich die erste, längs des Griffbretts über die Saiten zum Steg gezogene Perforation schneidet der klassischen Behandlung des Streichquartetts förmlich den Hals ab. Was diesem ersten hochenergetischen Einsatz folgt, nennt sich nicht umsonst Gran Torso. Statt handstreichartig per Guillotine werden die Gliedmaßen der traditionellen Gattung mit chirurgischer Meisterschaft amputiert. Ihre klanglichen und baulichen Voraus­setzungen werden mit einer Präzision und Systematik in ihre Bestandteile zerlegt, welche die satztechnischen Ansprüche der Gattung zugleich auf völlig neue Weise erfüllen. Ihrer konventionellen Extremitäten beraubt, bleibt so zugleich der Rumpf der Gattung erhalten. Eben diese Dialektik macht Helmut Lachenmanns 1971/72 entstandenes erstes Streichquartett zu jenem epochalen Schlüsselwerk, als das es die hervorragende Einspielung durch das New Yorker JACK Quartet nun auch per CD erlebbar macht.
Die jungen Musiker führen die erweiterten Spiel- und Klangpraktiken mit einer Prägnanz und Feinheit aus, die selbst in noch so gepressten Klängen den ganzen Reichtum an mitschwingenden Obertönen und Nuancen freilegt. Die einstige Widerborstigkeit des exzeptionellen Werks findet sich hier mit einer Delikatesse musiziert, die sich seinerzeit wohl selbst der Komponist nicht hätte träumen lassen. Hinzu kommt eine sensible Mikrofonierung, die dem Hö­rer den Eindruck vermittelt, mit den Ohren direkt an den Kontaktstel­len von Bogen, Griff-, Zupf- und Dämpffingern auf Saiten, Steg und Zarge
zu liegen. Angesichts der Vielzahl an Aufnahmen von Lachenmanns Werken ist solche Präsenz und Körperlichkeit des Klangs maßstabssetzend. Gerade die tonlosen Bogenstriche, die sich in der Mitte des Stücks während des großen Viola-Solos am Rande der Unhörbarkeit bewegen, entfalten eine bis dato auf CD kaum erreichte Intensität. Statt leiseste Details künstlich zu verstärken, wird die Aufmerksamkeit durch akustisch getreue Abbildung sämtlicher Bestandteile des Klangs bis zu eben jener Hellhörigkeit gespannt, die Lachenmann als den eigentlichen Sinn von Musik be­nannte: «Der Gegenstand von Musik ist das Hören, die sich selbst wahrnehmende Wahrnehmung.»
Nach der CD-Produktion aller drei Lachenmann-Quartette durch das Arditti String Quartet 2006 handelt es sich bereits um die zweite Gesamteinspielung, die der WDR im Kölner Funk- und Bonner Beethoven-Haus ermöglichte. Die im Vergleich größere Dichte und Leichtigkeit der hörenswerten JACK-Aufnahmen zeigt sich im Fall des 1989 entstandenen zweiten Quartetts Reigen seliger Geister allein schon an der knapperen Dauer von 26:28 Minuten, während die erste Aufzeichnung der Ardittis 1990 ganze 29 und die zweite 2006 immerhin noch 27:22 Minuten beanspruchte. Zusammen mit weiteren Aufnahmen des Berner, Diotima und Stadler Quartetts öffnet sich so zunehmend das ebenso spannende wie bisher unerforschte Feld der Aufführungs- und Interpretationsgeschichte von Lachenmanns Quartetten.

Rainer Nonnenmann