Maderna, Bruno

Complete Works for Orchestra

Verlag/Label: NEOS 10933/10934
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/04 , Seite 85

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 5
Booklet: 4
Gesamtwertung: 5

Gehörte er nun dazu oder nicht? Zum einen ja: durch Hermann Scherchen aufmerksam gemacht, bewegte sich der Italiener Bruno Maderna bald im Umkreis der Darmstädter Avantgarde um Boulez, Nono und Stockhausen. Gemeinsam mit ihnen stieß er in seinem Komponieren von Zwölftontechniken zum Serialismus vor, indem er seine Werke nach mathematischen Verfahrensweisen organisierte. Und doch: So ganz einem Schulzwang unterwerfen wollte Maderna sich nie. Davon, ein Darmstädter der strengen Observanz zu werden, hielten ihn mannigfache Erfahrungen aus der Jugendzeit und seine weiter praktizierte Dirigententätigkeit ab: Die Brücken zur Tradition mochte er nicht abbrechen, der Melodie und dem Ausdrucksprinzip nie ganz abschwören.
All dies lässt sich anhand der vorliegenden Veröffentlichung von Mader­nas Sämtlichen Werken für Orchester nachvollziehen, deren erste beide Lieferungen von geplanten fünf nun vorliegen. Den Begriff «Orchesterwerk» legt die im Entstehen befindliche Edition offenbar großzügig aus, was dem Musikfreund nur recht sein kann. Eine klare Abgrenzung der Gattungen ist bei Maderna nämlich unmöglich. Die auf Volume 1 dokumentierten Studi per «Il Processo» di Franz Kafka mit Sprecher und Sopran könnte man auch der Vokalmusik (oder gar dem Hörspiel) zuordnen, und die einzelnen Bausteine von Madernas Hyperion-Komplex sind im Grenzbereich von Instrumentalmusik und Musiktheater ohnehin schwer zu kategorisieren.
Dafür, dass Maderna im Geist der Avantgarde von 1950 einen Neuanfang machen wollte, sprechen die Werktitel: Von Improvisazione oder Composizione ist die nüchterne Rede, um die Erinnerung an die Sinfonik der Vergangenheit gar nicht erst aufkommen zu lassen. Zugleich wird jedoch die Traditionsbindung demonstrativ gesucht, wenn Maderna in der Composizione II von 1950 die Melodie des antiken «Seikilos»-Liedes zum Grund­material kürt oder in der Composizione in tre tempi italienische Folklore als verborgenes Skelett der Musik benutzt.
Die Aufnahmen der einzelnen Stücke mit dem hr-Sinfonieorchester unter der Leitung von Arturo Tamayo lassen alle Gedanken an die mathematisch-konstruktiven Grundlagen von Madernas Partituren hinter sich. Sie zeigen ihren Verfasser als einen virtuosen Beherrscher der Orchesterpalette, dessen Musik eine unmittelbar sinnlich ansprechende Qualität besitzt. So scheut sich Maderna nicht, seine Composizione II vom – als Stim­me der Romantik geltenden – Englisch­horn eröffnen zu lassen. Und immer wieder beeindrucken die fein zerstäubten Klänge seiner sonstigen Orchesterpartituren, sein raffiniertes Vexierspiel mit wechselnden Texturen und Klangdichten. Der große, überwältigen wollende sinfonische Klang liegt dieser Musik ferne: Madernas Orchester ist ein Kollektiv von Individuen.

Gerhard Dietel