György Kurtág

Complete Works for String Quartet

u. a. mit den Werken Arioso – Hommage à Walter Levin 85 (2 Fassungen) / 6 Moments musicaux op. 44 / Hommage à Jacob Obrecht / Officium breve in memoriam Andreae Szervánszky op. 28 / Aus der Ferne V / Hommage à Mihály András – 12 Mikroludien op. 13

Verlag/Label: NEOS 11033
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2011/06 , Seite 84

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 5
Booklet: 4
Gesamtwertung: 5

Streichquartette haben György Kurtág (geb. 1926) durch sein ganzes Leben begleitet; sie leiten wichtige Schaffensabschnitte ein, sind Wegmarkierungen, dennoch aber in ihrem Duktus, ihrem Klangbild und in der aphoristischen Kürze der Sätze sich gewissermaßen gleich bleibend. Eines wie das andere ist «typischer» Kurtág, und von daher mag es auch zu erklären sein, dass die vier Interpretinnen des Athena Quartetts eine Reihenfolge genau entgegen der Chronologie wählten.
Die Wiedergaben dieser hochexpressiven, klangsinnlichen und dabei höchst originellen Beiträge zur Gattung durch das Athena Quartett sind aufs deutlichste hervorzuheben. Wie viele andere Quartette vor ihm hat auch dieses Ensemble die nützliche Gelegenheit wahrgenommen, mit Kurtág selbst zu arbeiten, der ein penibler und sicherlich anstrengender Probenbegleiter ist. Das Ergebnis aber rechtfertigt alle Mühen: Jede Einzelheit der oft nur aus wenigen Tönen oder Figuren bestehenden Motive ist aufs Feinste artikuliert, die dynamische Palette gerade im Piano-Bereich subtil differenziert und vielschichtig abgetönt bis hin zu fast räumlichen Klangwirkungen; die Folge der charakteristischen, manchmal genreartigen Sätze und Sätzchen lässt immer wieder an fast szenische Klang-Aktionen denken, als wür­de hier – ohne Worte – ein geheimer Sinn ausgesprochen und ausformuliert.
Immer wieder auch gibt es in diesen Quartetten tonale Inseln, echte oder vorgetäuschte Zitate, Momente, die an Folklore, an die «Muttersprache» Bartók denken lassen, obwohl es in den meisten Fällen keineswegs echte Folklore ist, sondern nur eine Allusion, eine Chimäre, ein «Erinnerungsbrocken», wie es in einem Klavierstück aus dem Zyklus Játékok («Spiele») heißt. Dennoch wirken die Werke in dieser Wiedergabe stilistisch absolut einheitlich, auch wenn Kurtág im Officium breve eine tonal-neoklassizis­tische Streicherserenade seines Komponistenkollegen Endre Szervánszky (1911-77) direkt zitiert. (Die Schreibweise «Andreae» im lateinischen Titel bezeichnet übrigens ganz regelgerecht den lateinischen Genitiv von «Andreas» und ist keineswegs der Vorname des Komponisten, wie die Booklet-Texterin auf S. 4 meint; der steht im Übrigen auch im Vorwort zur Partitur.)
Wenn wir von «Gelegenheitswerken» sprachen, so war das nicht als Abstufung gegenüber den «Hauptwerken» gemeint; die Werkfolgen ohne Opuszahl, teilweise mit «open end», gehören zur künstlerischen Physiognomie Kurtágs wie die zuweilen «sprechenden» oder durch Zusatzbuchstaben verschachtelten Opuszahlen, die sich im Übrigen nicht unbedingt an die Chronologie der Entstehung halten. Kurzum: diese Einspielung präsentiert eine Werkfolge von höchstem Rang und entsprechend auf höchstem interpretatorischen Niveau. Man darf auf weitere maßstabsetzende Produktionen des Athena Quartetts gespannt sein.

Hartmut Lück