Contrechant

Music for clarinet solo | Werke von Luciano Berio, Elliott Carter, Peter Eötvös, Heinz Holliger, Salvatore Sciarrino und Gergely Vajda

Verlag/Label: ECM New Series 2209
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/02 , Seite 82

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Booklet: 4

Wo der Atem für die Tonerzeugung ursächlich ist, beim Erklingen der menschlichen Stimme oder von Blasinstrumenten, da liegt der Begriff «Gesang» nicht weit. Das Ideal des Singens ist stets zu spüren, wenn der Schweizer Musiker Reto Bieri seiner Klarinette Töne entlockt, selbst dort noch, wo avancierte Spieltechniken die melodischen Linien auflösen.
Die Vorstellung vom «Gesang» wird denn auch in manchen Titeln jener Werke direkt angesprochen, welche Bieri auf der vorliegenden CD-Neuveröffentlichung interpretiert. Unverhüllt bekennt sich Luciano Berios «Lied» zu diesem Ideal, wenn es gleichsam volkstümlich mit einer zweifachen, absteigend sequenzierten Kuckucks­terz beginnt. Eine Piano-Kultur mit faszinierenden Lontano-Effekten entwickelt Bieri hier, wenn die Töne aus dem Nichts kommen und ruhig wachsen. Ungemein geschmeidig weiß er in der Folge die Tonfarben zu wechseln, das sanft Leuchtende ins Grelle und Gleißende zu überführen oder auch mit schnellen Repetitionen und schmetternden Zwischentönen die träumerische Grundstimmung aufzuheben.
Gebrochener erscheint das «Singen» bei Heinz Holliger, wo die Werktitel «Contrechant» und «Rechant» in ihren Vorsilben bereits ein Moment der Distanz andeuten. Die Melodik wird hier im­mer wieder von Interjektionen durchbrochen oder findet sich zeitweise zur Gänze in punktuelle Ereignisse aufgelöst. Holliger, bekanntlich auch ein Meister des Oboenspiels, hat dem trotz der Unterschiede in Bau und Tonerzeugung von ferne verwandten Instrument Klarinette raffinierte Effekte abgewonnen: Glissandi und Mikrotöne, Multiphonics und geräuschhafte Effekte. Zudem gesteht er dem Klarinettisten im umfangreichen «Epilog» seines «Contrechant» gewisse Freiheiten zu, die Bieri zu einer Parforcejagd atem- und zungenfertiger Künste nutzt.
Sanglicher verfährt wiederum Salvatore Sciarrino in «Let me die before I wake»: einer Art Doppelgängermusik, bei der die aus Obertönen erzeugte Stimme von tremolierenden Schatten in der Tiefe begleitet wird. Von «flimmerndem Widerschein» spricht der Komponist selbst bei diesem seinem Werk, von «den Schwellen der Nacht» und «Momenten aufsteigender und abebbender Bewusstheit».
Abgerundet wird diese faszinierende, ganz dem Soloauftritt von Reto Bieris Klarinette gewidmete CD mit weiteren Werken der neuen Musik, darunter Elliott Carters sprunghaft-burleske Stu­die «Gra» und Peter Eötvös’ «Derwischtanz», dessen Titel über den Gehalt eher hinwegtäuscht: denn die erwartete schnelle Drehung wird zu einer gezügelten rituellen Musik aus ruhig aufsteigenden Linien gebremst. Den Namen «Lightshadow-Trembling» einer Klarinettenkomposition des Eötvös-Schülers Gergely Vajda darf man dagegen beim Wort nehmen: Wechsel von Licht und Schatten herrscht hier, wenn sich aus dem Hintergrund schemenhafter Tremoli und Arpeggien allmählich eine sangliche Stimme herauszeichnet.

Gerhard Dietel