Dutilleux, Henri
Correspondances
Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 5
Booklet: 6
Gleich die ersten Takte dieser Aufnahme zeigen den heute 97-jährigen Komponisten als brillanten Instrumentator. Spielend verwandelt er das Symphonieorchester zu vielfarbigen Gongschlägen. Die 2003 uraufgeführten Orchesterlieder Correspondances deren Ersteinspielung die neue CD ihren Namen verdankt sind Minidramen. Henri Dutilleux wollte hier sowohl synästhetische Korrespondenzen zwischen Hören und Sehen als auch möglichst große Entsprechungen zwischen Musik und Text schaffen. Und seine auf sprechende Weise vertonten Rilke-Gedichte sowie Briefe von Vincent van Gogh und Alexander Solschenizyn lässt Barbara Hannigan mit ihrem ebenso leuchtend-klaren wie jugendlich-beweglichen Sopran umso beredter werden.
Der französische Altmeister komponiert in der musiksprachlichen Tradition der Moderne von Maurice Ravel und Alban Berg. In sich stimmig, wirkt seine Musik stellenweise jedoch wie aus der Zeit gefallen, etwa das «Religioso» zu Beginn des Finalsatzes, der sich gemäß dem Brief van Goghs an seinen Bruder unversehens zum furiosen Höllentanz mit Tod und Teufel verkehrt. Imaginäres Theater ist auch das 1970 von Mstislaw Rostropowitsch uraufgeführte Cellokonzert Tout un monde lointain
, mit dem Solisten als Hauptfigur. Obzwar eine rein instrumentale Variationenfolge mit unverkennbaren Zügen eines Virtuosenkonzerts, stellte Dutilleux den fünf Sätzen Zitate aus Gedichten von Charles Baudelaire voran, die das Klanggeschehen inhaltlich aufladen. So lassen sich im zweiten Satz «Regard» die von Anssi Karttunen ekstatisch gespielten Solokantilenen des Cellisten im höchsten Register wie sehnsuchtsvolle Blicke nach eben jener «fernen Welt» hören, die der Werktitel beschwört.
Einen kongenialen Interpreten findet diese Musik in Esa-Pekka Salonen, der Dutilleux für «einen der größten Komponisten dieses und des letzten Jahrhunderts» hält. Der finnische Dirigent und Komponist schätzt an dessen Musik, was auch seine eigenen Werke auszeichnet: Sinnlichkeit und Farbigkeit des Klangs sowie bei aller Vielschichtigkeit und innermusikalischen Logik stets auch extrovertierter, den Hörer unmittelbar emotional ansprechender Ausdruck. Doch wird man den Eindruck nicht los, Anspruch und Wirklichkeit klafften hier zuweilen auseinander. Das 1997 uraufgeführte Orchesterwerk The Shadows of Time wirkt mit seinem Klassizismus und klanglichen Luxurieren viel zu schön, als dass es dem Anspruch gerecht würde, einige der größten Katastrophen des 20. Jahrhunderts zu schildern. Den Mittelsatz «Mémoire des ombres» schrieb Dutilleux in Erinnerung an das von den Nationalsozialisten ermordete jüdische Mädchen Anne Frank, dessen verzweifelte Frage «Wieso wir? Wieso der Stern?» drei Kinderstimmen singen. Doch das Äußerste an Schrecken findet der allenfalls leicht spukhafte Satz in plötzlich von Schlagzeugeinfällen durchzuckten Streicherclustern. Das ist Filmmusik-Niveau und bleibt hinter Werken mit vergleichbarem Anspruch von Schönberg, Zimmermann oder Nono weit zurück.
Rainer Nonnenmann